Erstes Buch
Der Produktionsprozeß des Kapitals
Vorwort zur ersten Auflage [1]
Das Werk, dessen ersten Band ich dem Publikum übergebe, bildet
die Fortsetzung meiner 1859 veröffentlichten Schrift: "Zur Kritik
der Politischen Oekonomie". Die lange Pause zwischen Anfang und
Fortsetzung ist einer langjährigen Krankheit geschuldet, die
meine Arbeit wieder und wieder unterbrach.
Der Inhalt jener früheren Schrift ist resümiert im ersten Kapitel
dieses Bandes. [2] Es geschah dies nicht nur des Zusammenhangs
und der Vollständigkeit wegen. Die Darstellung ist verbessert.
Soweit es der Sachverhalt irgendwie erlaubte, sind viele früher
nur angedeuteten Punkte hier weiter entwickelt, während umgekehrt
dort ausführlich Entwickeltes hier nur angedeutet wird. Die Abschnitte über die Geschichte der Wert- und Geldtheorie fallen
jetzt natürlich ganz weg. Jedoch findet der Leser der früheren
Schrift in den Noten zum ersten Kapitel neue Quellen zur Geschichte jener Theorie eröffnet.
Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft. Das Verständnis des ersten Kapitels, namentlich des Abschnitts, der die
Analyse der Ware enthält, wird daher die meiste Schwierigkeit machen. Was nun näher die Analyse der Wertsubstanz und der Wertgröße betrifft, so habe ich sie möglichst popularisiert. 1) Die
Wertform, deren fertige Gestalt die Geldform,
ist sehr inhaltslos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist
sie seit mehr als 1000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht,
während andrerseits die Analyse viel inhaltsvollerer und komplizierterer Formen wenigstens annähernd gelang. Warum? Weil der
ausgebildete Körper leichter zu studieren ist als die Körperzelle. Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen. Für die bürgerliche Gesellschaft
ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der
Ware die ökonomische Zellenform. Dem Ungebildeten scheint sich
ihre Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. Es handelt sich dabei in der Tat um Spitzfindigkeiten, aber nur so, wie
es sich in der mikrologischen Anatomie darum handelt.
Mit Ausnahme des Abschnitts über die Wertform wird man daher dies
Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit anklagen können. Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch
selbst denken wollen.
Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in
der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter
Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was
ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische
Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England.
Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm
stehn, so muß ich ihm zurufen: De te fabula narratur [3]
An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit
eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.
Aber abgesehn hiervon. Wo die kapitalistische Produktion völlig
bei uns eingebürgert ist, z.B. in den eigentlichen Fabriken, sind
die Zustände viel schlechter als in England, weil das Gegengewicht der Fabrikgesetze fehlt. In allen andren Sphären quält uns,
gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die
Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der
Mangel ihrer Entwicklung. Neben den
#15# Vorwort zur ersten Auflage
modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht
nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit
le vif! 1*)
Im Vergleich zur englischen ist die soziale Statistik Deutschlands und des übrigen kontinentalen Westeuropas elend. Dennoch
lüftet sie den Schleier grade genug, um hinter demselben ein Medusenhaupt ahnen zu lassen. Wir würden vor unsren eignen Zuständen erschrecken, wenn unsre Regierungen und Parlamente, wie in
England, periodische Untersuchungskommissionen über die ökonomischen Verhältnisse bestallten, wenn diese Kommissionen mit derselben Machtvollkommenheit, wie in England, zur Erforschung der
Wahrheit ausgerüstet würden, wenn es gelänge, zu diesem Behuf
ebenso sachverständige, unparteiische und rücksichtslose Männer
zu finden, wie die Fabrikinspektoren Englands sind, seine ärztlichen Berichterstatter über "Public Health" (öffentliche Gesundheit), seine Untersuchungskommissäre über die Exploitation der
Weiber und Kinder, über Wohnungs- und Nahrungszustände usw. Perseus brauchte ein Nebelkappe zur Verfolgung von Ungeheuern. Wir
ziehen die Nebelkappe tief über Aug' und Ohr, um die Existenz der
Ungeheuer wegleugnen zu können.
Man muß sich nicht darüber täuschen. Wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des 18. Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete, so der amerikanische Bürgerkrieg
des 19. Jahrhunderts für die europäische Arbeiterklasse. In England ist der Umwälzungsprozeß mit Händen greifbar. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den Kontinent rückschlagen. Dort wird
er sich in brutaleren oder humaneren Formen bewegen, je nach dem
Entwicklungsgrad der Arbeiterklasse selbst. Von höheren Motiven
abgesehn, gebietet also den jetzt herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich kontrollierbaren
Hindernisse, welche die Entwicklung der Arbeiterklasse hemmen.
Ich habe deswegen u.a. der Geschichte, dem Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so ausführlichen
Platz in diesem Bande eingeräumt. Eine Nation soll und kann von
der andern lernen. Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz
ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist def letzte
Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu
enthüllen -, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.
Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten
von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger
von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als
jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen
Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.
Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben Feinde wie auf allen
anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur des Stoffes, den sie
behandelt, ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des
Privatinteresses, auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche
z.B. verzeiht eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Heutzutage ist der Atheismus selbst eine culpa levis 1*), verglichen mit der Kritik
überlieferter Eigentumsverhältnisse. Jedoch ist hier ein Fortschritt unverkennbar. Ich verweise z.B. auf das in den letzten
Wochen veröffentlichte Blaubuch [4]: "Correspondence with Her Majesty's Missions Abroad, regarding Industrial Questions and Trades Unions". Die auswärtigen Vertreter der englischen Krone sprechen es hier mit dürren Worten aus, daß in Deutschland,
Frankreich, kurz allen Kulturstaaten des europäischen Kontinents,
eine Umwandlung der bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich ist als in England.
Gleichzeitig erklärte jenseits des Atlantischen Ozeans Herr Wade,
Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, in öffentlichen Meetings: Nach Beseitigung der Sklaverei trete die Umwandlunng der Kapital- und Grundeigentumsverhältnisse auf die Tagesordnung! Es sind dies Zeichen der Zeit, die sich nicht verstecken
lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten. Sie bedeuten
nicht, daß morgen Wunder geschehen werden. Sie zeigen, wie selbst
in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.
#17# Vorwort zur ersten Auflage
Der zweite Band dieser Schrift wird den Zirkulationsprozeß des
Kapitals (Buch II) und die Gestaltungen des Gesamtprozesses (Buch
III), der abschließende dritte (Buch IV) die Geschichte der Theorie behandeln.
Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung, der ich nie
Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch
des großen Florentiners:
Segui il tuo corso, e lascia dir le genti [5]
London, 25. Juli 1867
Karl Marx
Nachwort zur zweiten Auflage [6]
Den Lesern der ersten Ausgabe habe ich zunächst Ausweis zu geben
über die in der zweiten Ausgabe gemachten Veränderungen. Die
übersichtlichere Einteilung des Buchs springt ins Auge. Zusätzliche Noten sind überall als Noten zur zweiten Ausgabe bezeichnet.
Mit Bezug auf den Text selbst ist das Wichtigste:
Kapitel I, 1 ist die Ableitung des Werts durch Analyse der Gleichungen, worin sich jeder Tauschwert ausdrückt, wissenschaftlich
strenger durchgeführt, ebenso der in der ersten Ausgabe nur angedeutete Zusammenhang zwischen der Wertsubstanz und der Bestimmung
der Wertgröße durch gesellschaftlich-notwendige Arbeitszeit ausdrücklich hervorgehoben. Kapitel I, 3 (Die Wertform) ist gänzlich
umgearbeitet, was schon die doppelte Darstellung der ersten Ausgabe gebot. - Im Vorbeigehn bemerke ich, daß jene doppelte Darstellung durch meinen Freund, Dr. L. Kugelmann in Hannover, veranlaßt ward. Ich befand mich bei ihm zum Besuch im Frühling 1867,
als die ersten Probebogen von Hamburg ankamen, und er überzeugte
mich, daß für die meisten Leser eine nachträgliche, mehr didaktische Auseinandersetzung der Wertform nötig sei. - Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, "Der Fetischcharakter der Ware
etc.", ist großenteils verändert. Kapitel III, 1 (Maß der Werte)
ist sorgfältig revidiert, weil dieser Abschnitt in der ersten
Ausgabe, mit Hinweis auf die "Zur Kritik der Polit. Oek.", Berlin
1859, bereits gegebne Auseinandersetzung, nachlässig behandelt
war. Kapitel VII, besonders Teil 2, ist bedeutend umgearbeitet.
Es wäre nutzlos, auf die stellenweisen Textänderungen, oft nur
stilistisch im einzelnen einzugehn. Sie erstrecken sich über das
ganze Buch. Dennoch finde ich jetzt bei Revision der zu Paris erscheinenden französischen Übersetzung, daß manche Teile des deutschen Originals hier mehr durchgreifende Umarbeitung, dort größere stilistische Korrektur oder auch sorgfältigere Beseitigung
gelegentlicher Versehn erheischt hätten. Es fehlte
#19# Nachwort zur zweiten Auflage
dazu die Zeit, indem ich erst im Herbst 1871, mitten unter andren
dringenden Arbeiten die Nachricht erhielt, daß das Buch vergriffen sei, der Druck der zweiten Ausgabe aber bereits im Januar
1872 beginnen sollte.
Das Verständnis, welches "Das Kapital" rasch in weiten Kreisen
der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisstandpunkt, Herr
Mayer, Wiener Fabrikant, tat in einer während des deutsch-französischen Kriegs veröffentlichten Broschüre treffend dar, daß der
große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sog.
gebildeten Klassen Deutschlands durchaus abhanden gekommen ist,
dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt.
Die politische Ökonomie blieb in Deutschland bis zu dieser Stunde
eine ausländische Wissenschaft. Gustav von Gülich hat in
"Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe usw.", namentlich in den 1830 herausgegebnen zwei ersten Bänden seines
Werkes, großenteils schon die historischen Umstände erörtert,
welche die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bei
uns hemmten, daher auch den Aufbau der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Es fehlte also der lebendige Boden der politischen
Ökonomie. Sie ward als fertige Ware importiert aus England und
Frankreich; ihre deutschen Professoren blieben Schüler. Der theoretische Ausdruck einer fremden Wirklichkeit verwandelte sich unter ihrer Hand in eine Dogmensammlung, von ihnen gedeutet im Sinn
der sie umgebenden kleinbürgerlichen Welt, also mißdeutet. Das
nicht ganz unterdrückbare Gefühl wissenschaftlicher Ohnmacht und
das unheimliche Gewissen, auf einem in der Tat fremdartigen Gebiet schulmeistern zu müssen, suchte man zu verstecken unter dem
Prunk literarhistorischer Gelehrsamkeit oder durch Beimischung
fremden Stoffes, entlehnt den sog. Kameralwissenschaften, einem
Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegfeuer der hoffnungsvolle 1*)
Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehn hat.
Seit 1848 hat sich die kapitalistische Produktion rasch in
Deutschland entwickelt und treibt heutzutage bereits ihre Schwindelblüte. Aber unsren Fachleuten blieb das Geschick gleich abhold. Solange sie politische Ökonomie unbefangen treiben konnten,
fehlten die modernen ökonomischen Verhältnisse in der deutschen
Wirklichkeit. Sobald diese Verhältnisse ins Leben traten, geschah
es unter Umständen, welche ihr unbefangenes Studium innerhalb des
bürgerlichen Gesichtskreises nicht länger zulassen. Soweit sie
bürgerlich ist, d. h. die kapitalistische Ordnung statt als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe, umgekehrt als absolute und letzte
Gestalt der gesellschaftlichen Produktion auffaßt, kann die politische Ökonomie nur Wissenschaft bleiben, solange der Klassenkampf latent bleibt oder sich in nur vereinzelten Erscheinungen
offenbart.
Nehmen wir England. Seine klassische politische Ökonomie fällt in
die Periode des unentwickelten Klassenkampfs. Ihr letzter großer
Repräsentant, Ricardo, macht endlich bewußt den Gegensatz der
Klasseninteressen, des Arbeitslohns und des Profits, des Profits
und der Grundrente, zum Springpunkt seiner Forschungen, indem er
diesen Gegensatz naiv als gesellschaftliches Naturgesetz auffaßt.
Damit war eber auch die bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie bei
ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt. Noch bei Lebzeiten
Ricardos und im Gegensatz zu ihm trat ihr in der Person Sismondis
die Kritik gegenüber. 1)
Die nachfolgende Zeit von 1820-1830 zeichnet sich in England aus
durch wissenschaftliche Lebendigkeit auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Es war die Periode wie der Vulgarisierung und
Ausbreitung der Ricardoschen Theorie, so ihres Kampfes mit der
alten Schule. Es wurden glänzende Turniere gefeiert. Was damals
geleistet worden, ist dem europäischen Kontinent wenig bekannt,
da die Polemik großenteils in Revueartikeln, Gelegenheitsschriften und Pamphlets zerstreut ist. Der unbefangne Charakter dieser
Polemik - obgleich die Ricardosche Theorie ausnahmsweise auch
schon als Angriffswaffe wider die bürgerliche Wirtschaft dient erklärt sich aus den Zeitumständen. Einerseits trat die große Industrie selbst nur aus ihrem Kindheitsalter heraus, wie schon dadurch bewiesen ist, daß sie erst mit der Krise von 1825 den periodischen Kreislauf ihres modernen Lebens eröffnet. Andrerseits
blieb der Klassenkampf zwischen Kapital wnd Arbeit in den Hintergrund gedrängt, politisch durch den Zwist zwischen den um die
Heilige Allianz gescharten Regierungen und Feudalen und der von
der Bourgeoisie ge{ührten Volksmasse, ökonomisch durch den Hader
des industriellen Kapitals mit dem aristokratischen Grundeigentum, der sich in Frankreich hinter dem Gegensatz von Parzelleneigentum und großem Grundbesitz verbarg, in England seit den Korngesetzen offen ausbrach. Die Literatur der politischen Ökonomie
in England erinnert während dieser Periode an die ökonomische
Sturm- und Drangperiode in Frankreich nach Dr. Quesnays Tod, aber
nur wie ein Altweibersommer an den Frühling erinnert. Mit dem
Jahr 1830 trat die ein für allemal entscheidende Krise ein.
#21# Nachwort zur zweiten Auflage
Die Bourgeoisie hatte in Frankreich und England politische Macht
erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohende Formen. Er läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie. Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes
Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die
Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an
die Stelle unbefangner wissenschaftliche Untersuchung das böse
Cewissen und die schlechte Absicht der Apologetik.
Indes selbst die zudringlichen Traktätchen, welche die Anti-CornLaw League [7], mit den Fabrikanten Cobden und Bright an der
Spitze, in die Welt schleuderte, boten, wenn kein wissenschaftliches, doch ein historisches Interesse durch ihre Polemik gegen
die grundeigentümliche Aristokratie. Auch diesen letzten Stachel
zog die Freihandelsgesetzgebung seit Sir Robert Peel der Vulgärökonomie aus.
Die kontinentale Revolution von 1848 schlug auch auf England zurück. Männer, die noch wissenschaftliche Bedeutung beanspruchten
und mehr sein wollten als bloße Sophisten und Sykophanten der
herrschenden Klassen, suchten die politische Ökonomie des Kapitals in Einklang zu setzen mit den jetzt nicht länger zu ignorierenden Ansprüchen des Proletariats. Daher ein geistloser Synkretismus, wie ihn John Stuart Mill am besten repräsentiert. Es ist
eine Bankrotterklärung der "bürgerlichen" Ökonomie, welche der
große russische Gelehrte und Kritiker N. Tschernyschewski in seinem Werk "Umrisse der politischen Ökonomie nach Mill" bereits
meisterhaft beleuchtet hat.
In Deutschland kam also die kapitalistische Produktionsweise zur
Reife, nachdem ihr antagonistischer Charakter sich in Frankreich
und England schon durch geschichtliche Kämpfe geräuschvoll offenbart hatte, während das deutsche Proletariat bereits ein viel
entschiedneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die
deutsche Bourgeoisie. Sobald eine bürgerliche Wissenschaft der
politischen Ökonomie hier möglich zu werden schien, war sie daher
wieder unmöglich geworden.
Unter diesen Umständen teilten sich ihre Wortführer in zwei Reihen. Die einen, kluge, erwerbslustige, praktische Leute, scharten
sich um die Fahne Bastiats, des flachsten und daher gelungensten
Vertreters vulgärökonomischer Apologetik; die andren, stolz auf
die Professoralwürde ihrer Wissenschaft, folgten J. St. Mill in
dem Versuch, Unversöhnbares zu versöhnen. Wie zur klassischen
Zeit der bürgerlichen Ökonomie blieben die Deutschen auch zur
Zeit ihres Verfalls bloße Schüler, Nachbeter und Nachtreter,
Kleinhausierer des ausländischen Großgeschäfts.
Die eigentümliche historische Entwicklung der deutschen Gesellschaft schloß hier also jede originelle Fortbildung der
"bürgerlichen" Ökonomie aus, aber nicht deren - Kritik. Soweit
solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die
Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der
kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat.
Die gelehrten und ungelehrten Wortführer der deutschen Bourgeoisie haben "Das Kapital" zunächst totzuschweigen versucht, wie
ihnen das mit meinen frühern Schriften gelungen war. Sobald diese
Taktik nicht länger den Zeitverhältnissen entsprach, schrieben
sie, unter dem Vorwand mein Buch zu kritisieren, Anweise "Zur Beruhigung des bürgerlichen Bewußtseins", fanden aber in der Arbeiterpresse - sieh z. B. Joseph Dietzgens Aufsätze im "Volksstaat"
[8] - überlegene Kämpen, denen sie die Antwort bis heute schuldig. 1)
Eine treffliche russische Übersetzung des "Kapitals" erschien im
Frühling 1872 zu Petersburg. Die Auflage von 3000 Exemplaren ist
jetzt schon beinahe vergriffen. Bereits 1871 hatte Herr N. Sieber
(??????), Professor der politischen Ökonomie an der Universität
zu Kiew, in seiner Schrift: "?????? ???????? ? ????????
?.???????" ("D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals
etc.") meine Theorie des Werts, des Geldes und des Kapitals in
ihren Grundzügen als notwendige Fortbildung der Smith-Ricardoschen Lehre nachgewiesen. Was den Westeuropäer beim Lesen
seines gediegnen Buchs überrascht, ist das konsequente Festhalten
des rein theoretischen Standpunkts.
#25# Nachwort zur zweiten Auflage
Die im "Kapital" angewandte Methode ist wenig verstanden worden,
wie schon die einander widersprechenden Auffassungen desselben
beweisen.
So wirft mir die Pariser "Revue Positiviste" [9] vor, einerseits,
ich behandle die Ökonomie metaphysisch, andrerseits - man rate!
-, ich beschränke mich auf bloß kritische Zergliederung des Gegebnen, statt Rezepte (comtistische?) für die Garküche der Zukunft zu verschreiben. Gegen den Vorwurf der Metaphysik bemerkt
Prof. Sieber:
"Soweit es sich um die eigentliche Theorie handelt, ist die Methode von Marx die deduktive Methode der ganzen englischen
Schule, deren Mängel und Vorzüge den besten theoretischen Ökonomisten gemein sind." [10]
Herr M.Block - "Les Théoriciens du Socialisme en Allemagne. Extrait du Journal des Économistes, juillet et aout 1872" - entdeckt, daß meine Methode analytisch ist, und sagt u.a.:
"Par cet ouvrage M. Marx se classe parmi les esprits analytiques
les plus éminents." 1*)
Die deutschen Rezensenten schreien natürlich über Hegelsche Sophistik. Der Petersburger "???????? ??????" (Europäischer Bote),
in einem Artikel, der ausschließlich die Methode des "Kapital"
behandelt (Mainummer 1872, p.427-436), findet meine Forschungsmethode streng realistisch, die Darstellungsmethode aber unglücklicherweise deutsch-dialektisch. Er sagt:
"Auf den ersten Blick, wenn man nach der äußern Form der Darstellung urteilt, ist Marx der größte Idealphilosoph, und zwar im
deutschen, d.h. schlechten Sinn des Wortes. In der Tat aber ist
er unendlich mehr Realist als alle seine Vorgänger im Geschäft
der ökonomischen Kritik... Man kann ihn in keiner Weise einen
Idealisten nennen."
Ich kann dem Herrn Verfasser 2*) nicht besser antworten als durch
einige Auszüge aus seiner eignen Kritik, die zudem manchen meiner
Leser, dem das russische Original unzugänglich ist, interessieren
mögen. Nach einem Zitat aus meiner Vorrede zur "Kritik der Pol.
Oek.", Berlin 1859, p.IV-VII 3*), wo ich die materialistische
Grundlage meiner Methode erörtert habe, fährt der Herr Verfasser
fort:
"Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist
nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine
fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor
allem wichtig
das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat,
untersucht er im Detail die Folgen worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt... Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins:
durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist
vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung
nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muß, ganz
gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob
sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet
die gesellscheftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen
Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern
vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen... Wenn des bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so
untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst,
daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger
als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat
es Bewußtseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die
Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß
beide Tetsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich
die eine gegenüber der endren verschiedne Entwicklungsmomente
bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie
der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung, worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des ökonomischen Lebens sind ein und
dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Verganeenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren
solche abstrakte Gesetze nicht... Nach seiner Meinung besitzt im
Gegenteil jede historische Periode ihre eienen Gesetze... Sobald
das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch
durch andre Gesetze gelenkt zu werden. Mit einem Wort, das ökonomische Leben bietet uns eine der Entwicklungsgeschichte auf andren Gebieten der Biologie analoge Erscheinung... Die alten Ökonomen verkannten die Natur ökonomischer Gesetze, als sie dieselben
mit den Gesetzen der Physik und Chemie verglichen... Eine tiefere
Analyse der Erscheinungen bewies, daß soziale Organismen sich
voneinander ebenso gründlich unterscheiden als Pflanzen- und
Tierorganismen... Ja, eine und dieselbe Erscheinung unterliegt
ganz und gar verschiednen Gesetzen infolge des verschiednen Gesamtbaus jener Organismen, der Abweichung ihrer einzelnen Organe,
des Unterschieds der Bedineungen, worin sie funktionieren usw.
Marx leugnet z.B., daß das Bevölkerungsgesetz dasselbe ist zu allen Zeiten und an allen Orten. Er versichert im Gegenteil, daß
jede Entwicklungsstufe ihr eignes Bevölkerungsgesetz hat... Mit
der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die
Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das
Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt
#27# Nachwort zur zweiten Auflage
aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu
erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel,
welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens habe
muß... Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der
Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz,
Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus
und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln. Und diesen
Wert hat in der Tat das Buch von Marx."
Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode
nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres
hat er geschildert als diedialektische Methode?
Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im
Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese
Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des
Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer
Konstruktion a priori zu tun.
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für
Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in
ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen,
das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt
das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und
übersetzte Materielle.
Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor
beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode
war. Aber grade als ich den ersten Band des "Kapital" ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige
Epigonentum [11], welches jetzt im gebildeten Deutschland das
große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses
Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich
als "toten Hund". Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes
großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über
die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise.
Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt
hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um
den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.
In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode,
weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen
Gestalt ist sie
dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und
ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden
zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines nntwendigen
Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich
durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und evolutionär ist.
Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft
macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in
den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt - die allgemeine Krise.
Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie
die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen
heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik
einpauken.
London, 24. Januar 1873 Karl Marx
Vor- und Nachwort zur französischen Ausgabe
London, 18. März 1872
An den Bürger Maurice La Châtre
Werter Bürger!
Ich begrüße Ihre Idee, die Übersetzung des "Kapitals" in periodischen Lieferungen herauszubringen. In dieser Form wird das Werk
der Arbeiterklasse leichter zugänglich sein, und diese Erwägung
ist für mich wichtiger als alle anderen.
Das ist die Vorderseite Ihrer Medaille, aber hier ist auch die
Kehrseite: Die Untersuchungsmethode, deren ich mich bedient habe
und die auf ökonomische Probleme noch nicht angewandt wurde,
macht die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig, und es
ist zu befürchten, daß das französische Publikum, stets ungeduldig nach dem Ergebnis und begierig den Zusammenhang zwischen den
allgemeinen Grundsätzen und den Fragen zu erkennen, die es unmittelbar bewegen, sich abschrecken läßt, weil es nicht sofort weiter vordringen kann.
Das ist ein Nachteil, gegen den ich nichts weiter unternehmen
kann, als die nach Wahrheit strebenden Leser von vornherein darauf hinzuweisen und gefaßt zu machen. Es gibt keine Landstraße
für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre
lichten Höhen zu erreichen, die die Mühe nicht scheuen, ihre
steilen Pfade zu erklimmen.
Karl Marx
An den Leser
Herr J. Roy hat es unternommen, eine so genaue und selbst wörtliche Übersetzung wie möglich zu geben; er hat seine Aufgabe peinlich genau erfüllt. Aber gerade seine peinliche Genauigkeit hat
mich gezwungen, die
Fassung zu ändern, um sie dem Leser zugänglicher zu machen. Diese
Änderungen, die von Tag zu Tag gemacht wurden, da das Buch in
Lieferungen erschien, sind mit ungleicher Sorgfalt ausgeführt
worden und mußten Stilungleichheiten hervorrufen.
Nachdem ich mich dieser Revisionsarbeit einmal unterzogen hatte,
bin ich dazu gekommen, sie auch auf den zugrunde gelegten Originaltext anzuwenden (die zweite deutsche Ausgabe), einige Erörterungen zu vereinfachen, andre zu vervollständigen, ergänzendes
historisches oder statistisches Material zu geben, kritische Bemerkungen hinzuzufügen etc. Welches auch die literarischen Mängel
dieser französischen Ausgabe sein mögen, sie besitzt einen wissenschaftlichen Wert unabhängig vom Original und sollte selbst
von Lesern herangezogen werden, die der deutschen Sprache mächtig
sind.
Ich gebe weiter unten die Stellen des Nachworts zur zweiten deutschen Ausgabe, die sich mit der Entwicklung der politischen Ökonomie in Deutschland und der in diesem Werk angewandten Methode
befassen. 1*)
London, 28. April 1875
Karl Marx
Zur dritten Auflage
Es war Marx nicht vergönnt, diese dritte Auflage selbst druckfertig zu machen. Der gewaltige Denker, vor desssen Größe sich jetzt
auch die Gegner neigen, starb am 14. März 1883.
Auf mich, der ich in ihm den vierzigjährigen, besten, unverbrüchlichsten Freund verlor, den Freund, dem ich mehr verdanke, als
sich mit Worten sagen läßt, auf mich fiel nun die Pflicht, die
Herausgabe sowohl dieser dritten Auflage wie des handschriftlich
hinterlassenen zweiten Bandes zu besorgen. Wie ich den ersten
Teil dieser Pflicht erfüllt, darüber bin ich dem Leser hier Rechenschaft schuldig.
Marx hatte anfangs vor, den Text des ersten Bandes großenteils
umzuarbeiten, manche theoretischen Punkte schärfer zu fassen,
neue einzufügen, das geschichtliche und statistische Material bis
auf die neueste Zeit zu ergänzen. Sein Krankheitszustand und der
Drang, zur Schlußredaktion des zweiten Bandes zu kommen, ließen
ihn hierauf verzichten. Nur das Nötigste sollte geändert, nur die
Zusätze eingefügt werden, die die inzwischen erschienene französische Ausgabe ("Le Capital. Par Karl Marx", Paris, Lachatre 1873
[12]) schon enthielt.
Im Nachlaß fand sich denn auch ein deutsches Exemplar, das von
ihm stellenweise korrigiert und mit Hinweisen auf die französische Ausgabe versehen war; ebenso ein französisches, worin er die
zu benutzenden Stellen genau bezeichnet hatte. Diese Änderungen
und Zusätze beschränken sich, mit wenigen Ausnahmen, auf den
letzten Teil des Buchs, den Abschnitt: Der Akkumulationsprozeß
des Kapitals. Hier folgte der bisherige Text mehr als sonst dem
ursprünglichen Entwurf, während die früheren Abschnitte gründlicher überarbeitet waren. Der Stil war daher lebendiger, mehr aus
einem Guß, aber auch nachlässiger, mit Anglizismen versetzt,
stellenweise undeutlich; der Entwicklungsgang bot hier und da
Lücken, indem einzelne wichtige Momente nur angedeutet waren.
Was den Stil betrifft, so hatte Marx mehrere Unterabschnitte
selbst gründlich revidiert und mir darin, sowie in häufigen mündlichen Andeutungen, das Maß gegeben, wie weit ich gehn durfte in
der Entfernung englischer technischer Ausdrücke und sonstiger Anglizismen. Die Zusätze und Ergänzungen hätte Marx jedenfalls noch
überarbeitet und das glatte Französisch durch sein eignes gedrungenes Deutsch ersetzt; ich mußte mich begnügen, sie unter möglichstem Anschluß an den ursprünglichen Text zu übertragen.
Es ist also in dieser dritten Auflage kein Wort geändert, von dem
ich nicht bestimmt weiß, daß der Verfasser selbst es geändert
hätte. Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das "Kapital"
den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen
sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z. B. derjenige, der Sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben
läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen
Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird. Auch im Französischen wird
travail im gewöhnlichen Leben im Sinn von "Beschäftigung" gebraucht. Mit Recht aber würden die Franzosen den Ökonomen für
verrückt halten, der den Kapitalisten donneur de travail, und den
Arbeiter receveur de travail nennen wollte.
Ebensowenig habe ich mir erlaubt, das im Text durchweg gebrauchte
englische Geld, Maß und Gewicht auf seine neudeutschen Äquivalente zu reduzieren. Als die erste Auflage erschien, gab es in
Deutschland so viel Arten von Maß und Gewicht wie Tage im Jahr,
dazu zweierlei Mark (die Reichsmark galt damals nur im Kopf Soetbeers, der sie Ende der dreißiger Jahre erfunden), zweierlei Gulden und mindestens dreierlei Taler, darunter einer, dessen Einheit das "neue Zweidrittel" [13] war. In der Naturwissenschaft
herrschte metrisches, auf dem Weltmarkt englisches Maß und Gewicht. Unter solchen Umständen waren englische Maßeinheiten
selbstverständlich für ein Buch, das seine tatsächlichen Belege
fast ausschließlich aus englischen industriellen Verhältnissen zu
nehmen genötigt war. Und dieser letzte Grund bleibt auch noch
heute entscheidend, um so mehr, als die bezüglichen Verhältnisse
auf dem Weltmarkt sich kaum geändert haben und namentlich für die
ausschlaggebenden Industrien - Eisen und Baumwolle - englisches
Maß und Gewicht noch heute fast ausschließlich herrscht.
Schließlich noch ein Wort über Marx' wenig verstandne Art zu zitieren. Bei rein tatsächlichen Angaben und Schilderungen dienen
die Zitate, z.B. aus den englischen Blaubüchern, selbstredend als
einfache Belegstellen. Anders aber da, wo theoretische Ansichten
andrer Ökonomen zitiert werden.
Hier soll das Zitat nur feststellen, wo, wann und von wem ein im
Lauf der Entwicklung sich ergebender ökonomischer Gedanke zuerst
klar ausgesprochen ist. Wobei es nur darauf ankommt, daß die
fragliche ökonomische Vorstellung für die Geschichte der Wissenschaft Bedeutung hat, daß sie der mehr oder weniger adäquate
theoretische Ausdruck der ökonomischen Lage ihrer Zeit ist. Ob
aber diese Vorstellung für den Standpunkt des Verfassers noch absolute oder relative Geltung hat, oder ob sie bereits ganz der
Geschichte verfallen, darauf kommt es ganz und gar nicht an.
Diese Zitate bilden also nur einen der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar zum Text und
stellen die einzelnen wichtigeren Fortschritte der ökonomischen
Theorie nach Datum und Urheber fest. Und das war sehr nötig in
einer Wissenschaft, deren Geschichtschreiber bisher nur durch
tendenziöse, fast streberhafte Unwissenheit sich auszeichnen. Man wird es nun auch begreiflich finden, weshalb Marx, im Einklang mit dem Nachwort zur zweiten Ausgabe, nur ganz ausnahmsweis
deutsche Ökonomen anzuführen in den Fall kommt.
Der zweite Band wird hoffentlich im Laufe des Jahres 1884 erscheinen
können.
London, 7. Novbr. 1883 Friedrich Engels
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Vorwort zur englischen Ausgabe
Die Veröffentlichung einer englischen Ausgabe des "Kapital" bedarf keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es kann eine Erklärung
darüber erwartet werden, warum diese englische Ausgabe bis jetzt
verzögert worden ist, wenn man sieht, daß seit einigen Jahren die
in diesem Buch vertretenen Theorien in der periodischen Presse
und Tagesliteratur sowohl Englands wie Amerikas ständig erwähnt,
angegriffen und verteidigt, erklärt und mißdeutet wurden.
Als es, bald nach dem Tode des Verfassers im Jahre 1883, klar
wurde, daß eine englische Ausgabe des Werkes wirklich benötigt
wurde, erklärte sich Herr Samuel Moore, ein langjähriger Freund
Marx' und des Schreibers dieser Zeilen, und mit dem Buch selbst
vertrauter vielleicht als irgend jemand, dazu bereit, die Übersetzung zu übernehmen, die es die literarischen Testamentsvollstrecker von Marx drängte, der Öffentlichkeit vorzulegen. Es
wurde vereinbart, daß ich das Manuskript mit dem Original vergleichen und solche Änderungen vorschlagen sollte, die ich für
ratsam hielte. Als es sich nach und nach herausbtellte, daß seine
beruflichen Beschäftigungen Herrn Moore hinderten, die Übersetzung so schnell fertigzustellen, wie wir alle wünschten, nahmen
wir freudig das Angebot Dr. Avelings an, einen Teil der Arbeit zu
übernehmen; gleichzeitig erbot sich Frau Aveling, Marx' jüngste
Tochter, die Zitate zu kontrollieren und den Originaltext der
zahlreichen, englischen Autoren und Blaubüchern entnommenen und
von Marx ins Deutsche übersetzten Stellen wiederherzustellen. Das
ist durchgängig geschehen bis auf einige unvermeidbare Ausnahmen.
Folgende Teile des Buches sind von Dr. Aveling übersetzt worden:
1. Die Kapitel X (Der Arbeitstag) und XI (Rate und Masse des
Mehrwerts); 2. der Abschnitt VI (Der Arbeitslohn, umfassend die
Kapitel XIX bis XXII); 3. von Kapitel XXIV, Abteilung 4
(Umstände, welche usw.) bis
#37# Vorwort zur englischen Ausgabe
zum Ende des Buches, umfassend den letzten Teil von Kapitel XXIV,
Kapitel XXV und den ganzen Abschnitt VIII (die Kapitel XXVI bis
XXXIII); 4. die zwei Vorworte des Verfassers. Der übrige Teil des
Buches ist von Herrn Moore übersetzt worden. [14] Während so jeder der Übersetzer für seinen Anteil an der Arbeit allein verantwortlich ist, trage ich eine Gesamtverantwortung für das Ganze.
Die dritte deutsche Ausgabe, die durchweg zur Grundlage unserer
Arbeit genommen wurde, ist von mir 1883 vorbereitet worden unter
Zuhilfenahme der vom Verfasser hinterlassenen Notizen, die jene
Stellen der zweiten Ausgabe angeben, welche durch bezeichnete
Stellen des 1873 veröffentlichten französischen Textes ersetzt
werden sollten. 1) Die so im Text der zweiten Ausgabe zustande
gekommenen Veränderungen stimmten im allgemeinen mit den Änderungen überein, die Marx in einer Reihe von handschriftlichen Anweisungen für eine englische Übersetzung vorgeschrieben hat, die vor
zehn Jahren in Amerika geplant war, aber hauptsächlich aus Mangel
an einem tüchtigen und geeigneten Übersetzer aufgegeben wurde.
Dies Manuskript wurde uns von unserem alten Freund, Herrn F.A.
Sorge in Hoboken, N[ew] J[ersey], zur Verfügung gestellt. Es bezeichnet noch einige weitere Einschaltungen aus der französischen
Ausgabe; aber da es so viele Jahre älter ist als die letzten Anweisungen für die dritte Ausgabe, habe ich mich niicht für befugt
gehalten, anders davon Gebrauch zu machen als ausnahmsweise und
besonders in Fällen, in denen es uns über Schwierigkeiten hinweghalf. Ebenso ist der französische Text bei den meisten schwierigen Stellen herangezogen worden als Anhaltspunkt dafür, was der
Verfasser selbst zu opfern bereit war, wo immer etwas von der
ganzen Bedeutung des Originals in der Übersetzung geopfert werden
mußte.
Eine Schwierigkeit besteht dennoch, die wir dem Leser nicht ersparen konnten: die Benutzung von gewissen Ausdrücken in einem
nicht nur vom Sprachgebrauch des täglichen Lebens, sondern auch
dem der gewöhnlichen politischen Ökonomie verschiednen Sinne.
Doch dies war unvermeidlich. Jede neue Auffassung einer Wissenschaft schließt eine Revolution in den Fachausdrücken dieser Wissenschaft ein. Dies beweist am besten die Chemie, in der die gesamte Terminologie ungefähr alle zwanzig Jahre
radikal geändert wird und wo man kaum eine organische Verbindung
finden wird, die nicht eine ganze Reihe von verschiednen Namen
durchgemacht hat. Die politische Ökonomie hat sich im allgemeinen
damit zufriedengegeben, die Ausdrücke des kommerziellen und industriellen Lebens, so wie sie waren, zu nehmen und mit ihnen zu
operieren, wobei sie vollkommen übersehen hat, daß sie sich dadurch auf den engen Kreis der durch diese Worte ausgedrückten
Ideen beschränkte. So ist selbst die klassische politische Ökonomie, obgleich sie sich vollkommen bewußt war, daß sowohl Profit
wie Rente nur Unterabteilungen, Stücke jenes unbezahlten Teils
des Produkts sind, das der Arbeiter seinem Unternehmer (dessen
erstem Aneigner, obgleich nicht letztem, ausschließlichem Besitzer) liefern muß, doch niemals über die üblichen Begriffe von
Profit und Rente hinausgegangen, hat sie niemals diesen unbezahlten Teil des Produkts (von Marx Mehrprodukt genannt) in seiner
Gesamtheit als ein Ganzes untersucht und ist deshalb niemals zu
einem klaren Verständnis gekommen weder seines Ursprungs und seiner Natur noch auch der Gesetze, die die nachträgliche Verteilung
seines Werts regeln. Ähnlich wird alle Industrie, soweit nicht
Landwirtschaft oder Handwerk, unterschiedlos in dem Ausdruck Manufaktur zusammengefaßt und dadurch die Unterscheidung zwischen
zwei großen und wesentlich verschiednen Perioden der ökonomischen
Geschichte ausgelöscht: der Periode der eigentlichen Manufaktur,
die auf der Teilung der Handarbeit, und der Periode der modernen
Industrie, die auf der Maschinerie beruht. Es ist indessen
selbstverständlich, daß eine Theorie, die die moderne kapitalistische Produktion als eine bloße Entwicklungsstufe der ökonomischen Geschichte der Menschheit ansieht, andre Ausdrücke gebrauchen muß als die jenen Schriftstellern gewohnten, welche diese
Produktionsweise als unvergänglich und endgültig ansehn.
Ein Wort über die Methode des Verfassers zu zitieren, mag nicht
unangebracht sein. In der Mehrzahl der Fälle dienen die Zitate in
der üblichen Weise als dokumentarische Belege für im Text aufgestellte Behauptungen. Aber in vielen Fällen werden Stellen aus
ökonomischen Schriftstellern angeführt, um aufzuzeigen, wann, wo
und von wem eine bestimmte Ansicht zum erstenmal klar ausgesprochen wurde. Das geschieht in solchen Fällen, wo die angeführte
Meinung von Wichtigkeit ist als mehr oder weniger adäquater Ausdruck der zu einer gewissen Zeit vorherrschenden Bedingungen der
gesellschaftlichen Produktion und des Austauschs, und ganz unabhängig davon, ob sie Marx anerkennt oder ob sie allgemein gültig.
Diese Zitate versehen daher den Text mit einem der Geschichte der
Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar.
#39# Vorwort zur englischen Ausgabe
Unsere Übersetzung umfaßt nur das erste Buch des Werkes. Aber
dieses erste Buch ist in hohem Malße ein Ganzes in sich selbst
und hat zwanzig Jahre lang für ein selbständiges Werk gegolten.
Das zweite Buch das ich 1885 in deutscher Sprache herausgegeben
habe, ist entschieden unvollständig ohne das dritte, das nicht
vor Ende 1887 veröffentlicht werden kann. Wenn Buch III im deutschen Original herausgebracht ist, wird es früh genug sein, an
die Vorbereitung einer englischen Ausgabe von beiden zu denken.
"Das Kapital" wird auf dem Kontinent oft "die Bibel der Arbeiterklasse" genannt. Daß die in diesem Werk gewonnenen Schlußfolgerungen täglich mehr und mehr zu den grundlegenden Prinzipien der
großen Bewegung der Arbeiterklasse werden, nicht nur in Deutschland und der Schweiz, sondern auch in Frankreich, in Holland und
Belgien, in Amerika und selbst in Italien und Spanien; daß überall die Arbeiterklasse in diesen Schlußfolgerungen mehr und mehr
den angemessensten Ausdruck ihrer Lage und ihrer Bestrebungen anerkennt, das wird niemand leugnen, der mit dieser Bewegung vertraut ist. Und auch in England üben die Theorien von Marx gerade
in diesem Augenblick einen machtvollen Einfluß auf die sozialistische Bewegung aus, die sich in den Reihen der "Gebildeten"
nicht weniger ausbreitet als in den Reihen der Arbeiterklasse.
Aber das ist nicht alles. Die Zeit rückt schnell heran, wo eine
gründliche Untersuchung der ökonomischen Lage Englands sich aufzwingen wird als eine unwiderstehliche nationale Notwendigkeit.
Der Gang des industriellen Systems Englands, der unmöglich ist
ohne eine ständige und schnelle Ausdehnung der Produktion und daher der Märkte, ist zum Stillstand gekommen. Der Freihandel hat
seine Hilfsquellen erschöpft; selbst Manchester zweifelt an diesem seinem ehemaligen ökonomischen Evangelium. 1) Die sich
schnell entwickelnde ausländische Industrie starrt der englischen
Produktion überall ins Gesicht, nicht nur auf zollgeschützten,
sondern auch auf neutralen Märkten und sogar diesseits des Kanals. Während die Produktivkraft in
geometrischer Reihe wächst, schreitet die Ausdehnung der Märkte
bestenfalls in einer arithmetischen Reihe fort. Der zehnjährige
Zyklus von Stagnation, Prosperität, Überproduktion und Krise, der
von 1825 bis 1867 immer wiederkehrte, scheint allerdings abgelaufen zu sein; aber nur um uns im Sumpf der Verzweiflung einer dauernden und chronischen Depression landen zu lassen. Die ersehnte
Periode der Prosperität will nicht kommen; sooft wir die sie ankündigenden Symptome zu erblicken glauben, sooft verschwinden sie
wieder in der Luft. Inzwischen stellt jeder folgende Winter erneut die Frage: "Was tun mit den Arbeitslosen?" Aber während die
Zahl der Arbeitslosen von Jahr zu Jahr anschwillt, ist niemand
da, um diese Frage zu beantworten; und wir können den Zeitpunkt
beinahe berechnen, wo die Arbeitslosen die Geduld verlieren und
ihr Schicksal in ihre eignen Hände nehmen werden. In einem solchen Moment sollte sicherlich die Stimme eines Mannes gehört werden, dessen ganze Theorie das Ergebnis eines lebenslangen Studiums der ökonomischen Geschichte und Lage Englands ist und den
dieses Studium zu denn Schluß geführt hat, daß, zumindest in Europa, England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale
Revolution gänzlich mit friedlichen und gesetzlichen Mitteln
durchgeführt werden könnte. Gewiß hat er nie vergessen hinzuzufügen, daß er kaum erwarte, die herrschenden Klassen Englands würden sich ohne "proslavery rebellion" [15] dieser friedlichen und
gesetzlichen Revolution unterwerfen.
5. November 1886 Friedrich Engels
Zur vierter Auflege
Die vierte Auflage forderte von mir eine möglichst endgültige
Feststellung des Textes sowohl wie der Anmerkungen. Wie ich dieser Anforderung nachgekommen, darüber kurz folgendes.
Nach nochmaliger Vergleichung der französischen Ausgabe und der
handschriftlichen Notizen von Marx habe ich aus jener noch einige
Zusätze in den deutschen Text aufgenommen. Sie finden sich auf
S.80 (dritte Auflage, S. 88), S. 458-460 (dritte, S. 509-510), S.
547-551 (dritte, S. 600), S. 591-593 (dritte, S. 644) und S. 596
(dritte, S. 648) in der Note 79 1*).
Ebenso habe ich nach Vorgang der französischen und englischen
Ausgabe die lange Anmerkung über die Bergwerksarbeiter (dritte
Aufl., S. 509-515)
in den Text gesetzt (vierte Aufl., S. 461-467) 2*). Sonstige
kleine Änderungen sind rein technischer Natur.
Ferner habe ich noch einige erläuternde Zusatznoten gemacht, namentlich da, wo veränderte geschichtliche Umstände dies zu erfordern schienen. Alle diese Zusatznoten sind in eckige Klammern gesetzt und mit meinen Anfangsbuchstaben oder mit "D. H." bezeichnet. 3*)
Eine vollständige Revision der zahlreichen Zitate war notwendig
geworden durch die inzwischen erschienene englische Ausgabe. Für
diese hatte Marx' jüngste Tochter Eleanor sich der Mühe unterzogen, sämtliche angeführte Stellen mit den Originalen zu vergleichen, so daß in den bei weitem vorwiegenden Zitaten aus englischen Quellen dort keine Rückübersetzung aus dem Deutschen, sondern der englische Originaltext selbst erscheint. Es lag mir also
ob, diesen Text bei der vierten Auflage zu Rate zu ziehn. Es
fanden sich dabei mancherlei kleine Ungenauigkeiten. Hinweise auf
unrichtige Seitenzahlen, teils beim Kopieren aus den Heften
verschrieben, teils im Verlauf von drei Auflagen gehäufte Druckfehler Unrichtig gesetzte Anführungszeichen oder Lückenpunkte,
wie dies bei massenhaftem Zitieren aus Auszugsheften unvermeidlich. Hier und da ein weniger glücklich gewähltes Übersetzungswort. Einzelne Stellen zitiert aus den alten Pariser Heften 18431845, wo Marx noch kein Englisch verstand und englische Ökonomen
in französischer Übersetzung las; wo denn der doppelten Übersetzung eine leichte Änderung der Klangfarbe entsprach, z.B. bei
Steuart, Ure u.a. - wo jetzt der englische Text zu benutzen war.
Und was dergleichen kleine Ungenauigkeiten und Nachlässigkeiten
mehr sind. Wenn man nun die vierte Auflage mit den vorigen vergleicht, so wird man sich überzeugen, daß dieser ganze mühsame
Berichtigungsprozeß an dem Buch aber auch nicht das geringste geändert hat, das der Rede wert ist. Nur ein einziges Zitat hat
nicht gefunden werden können, das aus Richard Jones (4. Aufl.,
S.562, Note 471 1*)); Marx hat sich wahrscheinlich im Titel des
Buches verschrieben. Alle andern behalten ihre volle Beweiskraft
oder verstärken sie in der jetzigen exakten Form.
Hier aber bin ich genötigt, auf eine alte Geschichte zurückzukommen.
Es ist mir nämlich nur ein Fall bekannt, wo die Richtigkeit eines
Marxschen Zitats in Zweifel gezogen worden. Da dieser aber bis
über Marx' Tod hinaus gespielt hat, kann ich ihn hier nicht gut
übergehn. [16]
In der Berliner "Concordia", dem Organ des deutschen Fabrikantenbundes, erschien am 7. März 1872 ein anonymer Artikel: "Wie Karl
Marx citirt." Hier wurde mit überreichlichem Aufwand von sittlicher Entrüstung und von unparlamentarischen Ausdrücken behauptet,
das Zitat aus Gladstones Budgetrede vom 16. April 1863 (in der
Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation von 1864
2*) und wiederholt im "Kapital", I, S. 617, vierte Aufl., Seite
670-671, dritte Aufl. 3*)) sei gefälscht. Der Satz: "Diese berauschende Vermehrung von Reichtum und Macht... ist ganz und gar auf
die besitzenden Klassen beschränkt", stehe mit keinem Wort im
(quasioffiziellen) stenographischen Bericht von Hansard. "Dieser
Satz befindet sich aber nirgends in der Gladstoneschen Rede. Gerade das Gegenteil ist in derselben gesagt." (Mit fetter Schrift)
"Marx hat den Satz formell und materiell hinzugelogen!"
Marx, dem diese Nr. der "Concordia" im folgenden Mai zugesandt
wurde, antwortete dem Anonymus im "Volksstaat" vom 1. Juni. Da er
sich nicht mehr erinnerte, nach welchem Zeitungsreferat er ziterte, beschränkte
#43# Vorwort zur vierten Auflage
er sich darauf, das gleichlautende Zitat zunächst in zwei englischen Schriften nachzuweisen, und sodann das Referat der "Times"
zu zitieren, wonach Gladstone sagt:
"That is the state of the case as regards the wealth of this
country. I must say for one, I should look almost with apprehension and with pain upon this intoxiceting augmentation of wealth
and power, if it were my belief that it was confined to classes
who are in easy circumstances. This takes no cognizance at all of
the condition of the labouring population. The augmentation I
have described and which is founded, I think, upon accurate returns, is an augmentation entirely confined to classes of property" 1*)
Also Gladstone sagt hier, es würde ihm leid tun, wenn dem so
wäre, aber es sei so: Diese berauschende Vermehrung von Macht und
Reichtum sei ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt.
Und was den quasioffiziellen Hansard betrifft, so sagt Marx weiter: "In seiner hier nachträglich zurechtgestümperten Ausgabe war
Herr Gladstone so gescheit, die im Munde eines englischen Schatzkanzlers allerdings kompromittierliche Stelle wegzupfuschen. Es
ist dies übrigens herkömmlicher englischer Parlamentsbrauch, und
keineswegs eine Erfindung des Laskerchen contra Bebel [17]."
Der Anonymus wird immer erboster. Die Quellen zweiter Hand in
seiner Antwort, "Concordia", 4. Juli, beiseite schiebend, deutet
er schamhaft an, es sei "Sitte", Parlamentsreden nach dem stenographischen Bericht zu zitieren; aber auch der Bericht der
"Times" (worin der "hinzugelogene" Satz steht) und der von Hansard (worin er fehlt) "stimmen materiell völlig überein", und
ebenso enthalte der "Times"-Bericht "das direkte Gegenteil jener
berüchtigten Stelle der Inauguraladresse", wobei der Mann sorgsam
verschweigt, daß er neben diesem angeblichen Gegenteil" gerade
"jene berüchtigte Stelle" ausdrücklich enthält! Trotz alledem
fühlt der Anonymus daß er festsitzt und daß nur ein neuer Winkelzug ihn retten kann. Während er also seinen, wie soeben nachgewiesen, von "frecher Verlogenheit" strotzenden Artikel mit erbaulichen Schimpfereien spickt, als da sind: "mala fides",
"Unehrlichkeit", "lügenhafte Angabe", "jenes lügenhafte Zitat"
"freche Verlogenheit", "ein Zitat, das völlig gefälscht war",
"diese
Fälschung", "einfach infam", usw., findet er es für nötig, die
Streitfrage auf ein andres Gebiet überzuspielen, und verspricht
daher, "in einem zweiten Artikel auseinanderzusetzen, welche Bedeutung wir" (der nicht "lügenhafte" Anonymus) "dem Inhalt der
Gladstoneschen Worte beilegen". Als ob diese seine unmaßgebliche
Meinung das geringste mit der Sache zu tun habe! Dieser zweite
Artikel steht in der "Concordia" vom 11. Juli.
Marx antwortete noch einmal im "Volksstaat" vom 7. August, indem
er nun auch die Referate der betreffenden Stelle aus dem "Morning
Star" und dem "Morning Advertiser" vom 17. April 1863 brachte.
Nach beiden sagt Gladstone, er würde mit Besorgnis usw. auf diese
berauschende Vermehrung von Reichtum und Mecht blicken, wenn er
sie auf die wirklich wohlhabenden Klassen (classes in easy circumstances) beschränkt glaubte. Aber diese Vermehrung sei beschränkt auf Klassen, die Eigentum besitzen (entirely confined to
classes possessed of property). Also auch diese Referate bringen
den angeblich "hinzugelogenen" Satz wörtlich. Ferner stellte er
nochmals fest, durch Vergleichung der Texte der "Times" und Hansards, deß der durch drei am nächsten Morgen erschienene, voneinander unabhängige, gleichlautende Zeitungsreferete als wirklich
gesprochen konstatierte Setz in dem nach bekannter "Sitte"'
durchgesehenen Referat von Hansard fehlt, das Gladstone ihn in
Marx Worten "nachträglich wegstipitzt hat", und erklärt schließlich, er habe keine Zeit, mit dem Anonymus weiter zu verkehren.
Dieser scheint auch genug gehabt zu haben, wenigstens erhielt
Marx keine ferneren Nummern der "Concordia" zugeschickt.
Damit schien die Sache tot und begraben. Allerdings kamen uns
seitdem ein- oder zweimal von Leuten, die mit der Universität
Cambridge in Verkehr standen, geheimnisvolle Gerüchte zu über ein
unsagbares literarisches Verbrechen, das Marx im "Kapitel" begengen haben sollte; aber trotz aller Nachforschungen war absolut
nichts Bestimmteres zu erfahren. Da, am 29. November 1883, acht
Monate nach Marx' Tod, erschien in der "Times" ein Brief, datiert
Trinity College, Cambridge, und unterzeichnet Sedley Taylor,
worin bei einer vom Zaun gebrochnen Gelegenheit dies in zahmster
Genossenschafterei machende Männlein uns endlich Aufklärung verschaffte, nicht nur über die Munkeleien von Cambridge, sondern
auch über den Anonymus der "Concordia".
"Was äußerst sonderbar erscheint", sagt das Männlein von Trinity
College, "ist, daß es dem Professor Brentano (damals in Breslau,
jetzt in Straßburg) vorbehalten war... die mala fides zu enthüllen, welche augenscheinlich das Zitat aus Gladstones Rede in der"
(Inaugural-) "Adresse diktiert hatte. Herr Karl Marx, der... das
Zitat zu verteidigen suchte, hatte die Verwegenheit, in den Todeswindungen (deadly shifts), auf die
#45# Vorwort zur vierten Auflage
Brentanos meisterhaft geführte Angriffe ihn schleunigst herunterbrachten, zu behaupten. Herr Gladstone habe den Bericht seiner
Rede in der 'Times' vom 17. April 1863 zurechtgestümpert, ehe er
in Hansard erschien, um eine Stelle wegzupfuschen, die allerdings
für einen englischen Schatzkanzler kompromittierlich sei. Als
Brentano, durch eine ins einzelne gehende Textvergleichung, bewies, daß die Berichte der 'Times' und von Hansard übereinstimmten in absolutem Ausschluß des Sinnes, den pfiffig-isolierte Zitiering den Gladstoneschen Worten untergeschoben hatte, da zog
Marx sich zurück unter dem Vorwand des Zeitmangels!"
Das also war des Pudels Kern! Und so glorios reflektierte sich in
der produktivgenossenschaftlichen Phantasie von Cambridge die
anonyme Kampagne Herrn Brentanos in der "Concordia"! So lag er,
und so führt er seine Klinge [18], in "meisterhaft geführtem Angriff", dieser Sankt Georg des deutschen Fabrikantenbundes, während der Höllendtache Marx zu seinen Füßen "schleunigst in Todeswindungen" verröchelt!
Jedennoch dient diese ganze ariostische Kampfschilderung nur
dazu, die Winkelzüge unseres Sankt Georg zu verdecken. Hier ist
schon nicht mehr die Rede von "Hinzulügen", von "Fälschung", sondern von "pfiffig isolierter Zitierung" (craftily isolated quotation). Die ganze Frage war verschoben, und Sankt Georg und sein
Cambridger Schildknappe wußten sehr genau weshalb.
Eleanor Marx antwortete, da die "Times" die Aufnahme verweigerte,
in der Monatsschrift "To-Day", Februar 1884, indem sie die Debatte auf den einzigen Punkt zurückführte, um welchen es sich gehandelt hatte: Hat Marx jenen Satz "hinzugelogen" oder nicht?
Darauf erwidert Herr Sedley Taylor:
"Die Frage, ob ein gewisser Satz in Herrn Gladstones Rede vorgekommen sei oder nicht", sei nach seiner Ansicht "von sehr untergeordneter Bedeutung gewesen" im Streit zwischen Marx und Brentano, "verglichen mit der Frage, ob das Zitat gemacht worden sei
in der Absicht, Gladstones Sinn wiederzugeben oder zu entstellen."
Und dann gibt er zu, daß der "Times"-Bericht "in der Tat einen
Widerspruch in den Worten enthält"; aber, aber, der übrige Zusammenhang richtig, d.h. im liberal-gladstoneschen Sinn erklärt,
zeige an, was Herr Gladstone habe sagen w o l l e n. ("To-Day",
März 1884.) Das Komischste dabei ist, daß unser Männlein von Cambridge nun darauf besteht, die Rede n i c h t nach Hansard zu
zitieren, wie es nach dem anonymen Brentano "Sitte" ist, sondern
nach dem von demselben Brentano als "notwendig stümperhaft" bezeichneten Bericht der "Times". Natürlich, der fatale Satz
f e h l t ja im Hansard!
Eleanor Marx hatte es leicht, diese Argumentation in derselben
Nummer von "To-Day" in Dunst aufzulösen. Entweder hatte Herr Taylor die Kontroverse von 1872 gelesen. Dann hatte er jetzt
"gelogen", nicht nur "hinzu", sondern auch "hinweg". Oder er
hatte sie nicht gelesen. Dann war er verpflichtet, den Mund zu
halten. Jedenfalls stand fest, daß er die Anklage seines Freundes
Brentano, Marx habe "hinzugelogen", keinen Augenblick aufrechtzuerhalten wagte. Im Gegenteil, Marx soll nun nicht hinzugelogen,
sondern einen wichtigen Satz unterschlagen haben. Aber dieser
selbe Satz ist zitiert auf S. 5 der Inauguraladresse, wenige Zeilen vor dem angeblich "hinzugelogenen". Und was den "Widerspruch"
in Gladstones Rede angeht, ist es nicht gerade Marx, der im
"Kapital", S. 618 (3.Aufl., S. 672), Note 105 1*) von den
"fortlaufenden, schreienden Widersprüchen in Gladstones Budgetreden von 1863 und 1864" spricht! Nur daß er sich nicht à la Sedley
Taylor unterfängt, sie in liberalem Wohlgefallen aufzulösen. Und
das Schlußresume in E. Marx' Antwort lautet dann: "Im Gegenteil,
Marx hat weder etwas Anführenswertes unterdrückt noch das geringste hinzugelogen. Aber er hat wiederhergestellt und der Vergessenheit entzogen einen gewissen Satz einer Gladstoneschen Rede,
der unzweifelhaft ausgesprochen worden, der aber, so oder so,
seinen Weg gefunden hat - aus Hansard hinaus."
Damit hatte Herr Sedley Taylor denn auch genug, und das Resultat
des ganzen, durch zwei Jahrzehnte und über zwei große Länder
fortgesponnenen Professorenklüngels war, daß man nicht mehr gewagt hat, Marx' literarische Gewissenhaftigkeit anzutasten, daß
aber seitdem Herr Sedley Taylor wohl ebensowenig Vertrauen setzen
wird in die literarischen Schlachtbulletins des Herrn Brentano
wie Herr Brentano in die päpstliche Unfehlbarkeit von Hansard.
London, 25. Juli 1890 F. Engels