ACHTZEHNTES KAPITEL
Der Zeitlohn
Der Arbeitslohn nimmt selbst wieder sehr mannigfaltige Formen an,
ein Umstand, nicht erkennbar aus den ökonomischen Kompendien, die
in ihrer brutalen Interessiertheit für den Stoff jeden Formunterschied vernachlässigen. Eine Darstellung aller dieser Formen gehört jedoch in die spezielle Lehre von der Lohnarbeit, also nicht
in dieses Werk. Dagegen sind die zwei herrschenden Grundformen
hier kurz zu entwickeln.
Der Verkauf der Arbeitskraft findet, wie man sich erinnert, stets
für bestimmte Zeitperioden statt. Die verwandelte Form, worin der
Tageswert, Wochenwert usw. der Arbeitskraft sich unmittelbar darstellt, ist daher die des "Zeitlohns", also Tageslohn usw.
Es ist nun zunächst zu bemerken, daß die im fünfzehnten Kapitel
dargestellten Gesetze über den Größenwechsel von Preis der Arbeitskraft und Mehrwert sich durch einfache Formveränderung in
Gesetze des Arbeitslohns verwandeln. Ebenso erscheint der Unterschied zwischen dem Tauschwert der Arbeitskraft und der Masse der
Lebensmittel, worin sich dieser Wert umsetzt, jetzt als Unterschied von nominellem und reellem Arbeitslohn. Es wäre nutzlos,
in der Erscheinungsform zu wiederholen, was in der wesentlichen
Form bereits entwickelt. Wir beschränken uns daher auf wenige,
den Zeitlohn charakterisierende Punkte.
Die Geldsumme 30), die der Arbeiter für seine Tagesarbeit, Wochenarbeit usw. erhält, bildet den Betrag seines nominellen oder
dem Wert nach geschätzten Arbeitslohns. Es ist aber klar, daß je
nach der Länge des Arbeitstags, also je nach der täglich von ihm
gelieferten Quantität Arbeit, derselbe Tageslohn, Wochenlohn usw.
einen sehr verschiednen Preis der Arbeit, d.h. sehr verschiedne
Geldsummen für dasselbe Quantum Arbeit
#566# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
darstellen kann. 31) Man muß also bei dem Zeitlohn wieder unterscheiden zwischen Gesamtbetrag des Arbeitslohns, Taglohns, Wochenlohns usw. und Preis der Arbeit. Wie nun diesen Preis finden,
d.h. den Geldwert eines gegebnen Quantums Arbeit? Der durchschnittliche Preis der Arbeit ergibt sich, indem man den durchschnittlichen Tageswert der Arbeitskraft durch die Stundenzahl
des durchschnittlichen Arbeitstags dividiert. Ist z.B. der Tageswert der Arbeitskraft 3 sh., das Wertprodukt von 6 Arbeitsstunden, und ist der Arbeitstag zwölfstündig, so ist der Preis einer
Arbeitsstunde 3 sh./12 = 3 d. Der so gefundene Preis der Arbeitsstunde dient als Einheitsmaß für den Preis der Arbeit.
Es folgt daher, daß der Taglohn, Wochenlohn usw. derselbe bleiben
kann, obgleich der Preis der Arbeit fortwährend sinkt. War z.B.
der gewohnheitsmäßige Arbeitstag 10 Stunden und der Tageswert der
Arbeitskraft 3 sh., so betrug der Preis der Arbeitsstunde 3 3/5
d.; er sinkt auf 3 d., sobald der Arbeitstag zu 12 Stunden, und 2
2/5, d., sobald er zu 15 Stunden steigt. Tages- oder Wochenlohn
bleiben trotzdem unverändert. Umgekehrt kann der Taglohn oder Wochenlohn steigen, obgleich der Preis der Arbeit konstant bleibt
oder selbst sinkt. War z.B. der Arbeitstag zehnstündig und ist
der Tageswert der Arbeitskraft 3 sh., so der Preis einer Arbeitsstunde 3 3/5 d. Arbeitet der Arbeiter infolge zunehmender Beschäftigung und bei gleichbleibendem Preise der Arbeit 12 Stunden, so steigt sein Tageslohn nun auf 3 sh. 7 1/5 d. ohne Variation im Preise der Arbeit. Dasselbe Resultat könnte herauskommen,
wenn statt der extensiven Größe der Arbeit ihre intensive Größe
zunähme. 32) Steigen des nominellen Tages- oder Wochenlohns mag
daher begleitet sein von gleichbleibendem oder sinkendem Preis
der Arbeit. Dasselbe gilt von der Einnahme der Arbeiterfamille,
sobald das vom Familienhaupt gelieferte Arbeitsquantum durch die
Arbeit der Familienglieder
#567# 18. Kapitel - Der Zeitlohn
vermehrt wird. Es gibt also von der Schmälerung des nominellen
Tages- oder Wochenlohns unabhängige Methoden zur Herabsetzung des
Preises der Arbeit. 33)
Als allgemeines Gesetz aber folgt: Ist die Quantität der Tages-,
Wochenarbeit usw. gegeben, so hängt der Tages- oder Wochenlohn
vom Preise der Arbeit ab, der selbst variiert, entweder mit dem
Wert der Arbeitskraft oder den Abweichungen ihres Preises von ihrem Werte. Ist dagegen der Preis der Arbeit gegeben, so hängt der
Tages- oder Wochenlohn von der Quantität der Tages- oder Wochenarbeit ab.
Die Maßeinheit des Zeitlohns, der Preis der Arbeitsstunde, ist
der Quotient des Tageswerts der Arbeitskraft, dividiert durch die
Stundenzahl des gewohnheitsmäßigen Arbeitstags. Gesetzt, letztrer
betrage 12 Stunden, der Tageswert der Arbeitskraft 3 sh., das
Wertprodukt von 6 Arbeitsstunden. Der Preis der Arbeitsstunde ist
unter diesen Umständen 3 d., ihr Wertprodukt 6 d. Wird der Arbeiter nun weniger als 12 Stunden täglich (oder weniger als 6 Tage
in der Woche) beschäftigt, z.B. nur 6 oder 8 Stunden, so erhält
er, bei diesem Preise der Arbeit, nur 2 oder 1 1/2 sh. Taglohn.
34) Da er nach der Voraussetzung im Durchschnitt 6 Stunden täglich arbeiten
#568# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
muß, um nur einen dem Wert seiner Arbeitskraft entsprechenden
Taglohn zu produzieren, da er nach derselben Voraussetzung von
jeder Stunde nur 1/2 für sich selbst, 1/2 aber für den Kapitalisten arbeitet, so ist es klar, daß er das Wertprodukt von 6 Stunden nicht herausschlagen kann, wenn er weniger als 12 Stunden beschäftigt wird. Sah man früher die zerstörenden Folgen der Überarbeit, so entdeckt man hier die Quellen der Leiden, die für den
Arbeiter aus seiner Unterbeschäftigung entspringen.
Wird der Stundenlohn in der Weise fixiert, daß der Kapitalist
sich nicht zur Zahlung eines Tages- oder Wochenlohns verpflichtet, sondern nur zur Zahlung der Arbeitsstunden, während deren es
ihm beliebt, den Arbeiter zu beschäftigen, so kann er ihn unter
der Zeit beschäftigen, die der Schätzung des Stundenlohns oder
der Maßeinheit für den Preis der Arbeit ursprünglich zugrunde
liegt. Da diese Maßeinheit bestimmt ist durch die Proportion Tageswert der Arbeitskraft / Arbeitstag von gegebner Stundenzahl,
verliert sie natürlich allen Sinn, sobald der Arbeitstag aufhört,
eine bestimmte Stundenzahl zu zählen. Der Zusammenhang zwischen
der bezahlten und unbezahlten Arbeit wird aufgehoben. Der Kapitalist kann jetzt ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus dem Arbeiter herausschlagen, ohne ihm die zu seiner Selbsterhaltung notwendige Arbeitszeit einzuräumen. Er kann jede Regelmäßigkeit der
Beschäftigung vernichten und ganz nach Bequemlichkeit, Willkür
und augenblicklichem Interesse die ungeheuerste Überarbeit mit
relativer oder gänzlicher Arbeitslosigkeit abwechseln lassen. Er
kann, unter dem Vorwand, den "normalen Preis der Arbeit" zu zahlen, den Arbeitstag, ohne irgend entsprechende Kompensation für
den Arbeiter, anormal verlängern. Daher der durchaus rationelle
Aufstand (1860) der im Baufach beschäftigten Londoner Arbeiter
gegen den Versuch der Kapitalisten, diesen Stundenlohn aufzuherrschen. Die gesetzliche Beschränkung des Arbeitstags macht solchem
Unfug ein Ende, obgleich natürlich nicht der aus Konkurrenz der
Maschinerie, Wechsel in der Qualität der angewandten Arbeiter,
partiellen und allgemeinen Krisen entspringenden Unterbeschäftigung.
Bei wachsendem Tages- oder Wochenlohn kann der Preis der Arbeit
nominell konstant bleiben und dennoch unter sein normales Niveau
sinken. Dies findet jedesmal statt, sobald mit konstantem Preis
der Arbeit, resp. der Arbeitsstunde, der Arbeitstag über seine
gewohnheitsmäßige Dauer verlängert wird. Wenn in dem Bruch Tageswert der Arbeitskraft / Arbeitstag der Nenner wächst, wächst der
Zähler noch rascher. Der Wert der Arbeitskraft, weil ihr Verschleiß, wächst mit der Dauer ihrer Funktion und in rascherer
#569# 18. Kapitel - Der Zeitlohn
Proportion als das Inkrement ihrer Funktionsdauer. In vielen Industriezweigen, wo Zeitlohn vorherrscht, ohne gesetzliche Schranken der Arbeitszeit, hat sich daher naturwüchsig die Gewohnheit
herausgebildet, daß der Arbeitstag nur bis zu einem gewissen
Punkt, z.B. bis zum Ablauf der zehnten Stunde, als normal gilt
("normal working day", "the day's work", the regular hours of
work" 1*)). Jenseits dieser Grenze bildet die Arbeitszeit Überzeit (overtime) und wird, die Stunde als Maßeinheit genommen,
besser bezahlt (extra pay), obgleich oft in lächerlich kleiner
Proportion. 35) Der normale Arbeitstag existiert hier als Bruchteil des wirklichen Arbeitstags, und der letztere währt oft während des ganzen Jahres länger als der erstere. 36) Das Wachstum
im Preis der Arbeit mit der Verlängerung des Arbeitstags über
eine gewisse Normalgrenze gestaltet sich in verschiednen britischen Industriezweigen so, daß der niedrige Preis der Arbeit während der sog. Normalzeit dem Arbeiter die besser bezahlte Überzeit aufzwingt, will er Oberhaupt einen genügenden Arbeitslohn
herausschlagen. 37)
#570# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
Gesetzliche Beschränkung des Arbeitstags macht diesem Vergnügen
ein Ende. 38)
Es ist allgemein bekannte Tatsache, daß, je länger der Arbeitstag
in einem Industriezweig, um so niedriger der Arbeitslohn. 39) Fabrikinspektor A. Redgrave illustriert dies durch eine vergleichende Übersicht der zwanzigjährigen Periode von 1839-1859, wonach der Arbeitslohn in den dem Zehnstundengesetz unterworfenen
Fabriken stieg, während er fiel in den Fabriken, wo 14 bis 15
Stunden täglich gearbeitet wird. 40)
Zunächst folgt aus dem Gesetz: Bei gegebnem Preis der Arbeit
hängt der Tages- oder Wochenlohn von der Quantität der gelieferten Arbeit ab", daß, je niedriger der Preis der Arbeit, desto
größer das Arbeitsquantum sein muß oder desto länger der Arbeitstag, damit der Arbeiter auch nur einen kümmerlichen Durchschnittslohn sichre. Die Niedrigkeit des Arbeitspreises wirkt
hier als Sporn zur Verlängerung der Arbeitszeit. 41)
#571# 18. Kapitel - Der Zeitlohn
Umgekehrt aber produzert ihrerseits die Verlängerung der Arbeitszeit einen Fall im Arbeitspreise und damit im Tages- oder Wochenlohn. Die Bestimmung des Arbeitspreises durch
Tageswert der Arbeitskraft / Arbeitstag von gegebner Stundenzahl
ergibt, daß bloße Verlängerung des Arbeitstags den Arbeitspreis
senkt, wenn keine Kompensation eintritt. Aber dieselben Umstände,
welche den Kapitalisten befähigen, den Arbeitstag auf die Dauer
zu verlängern, befähigen ihn erst und zwingen ihn schließlich,
den Arbeitspreis auch nominell zu senken, bis der Gesamtpreis der
vermehrten Stundenzahl sinkt, also der Tages- oder Wochenlohn.
Hinweis auf zwei Umstände genügt hier. Verrichtet ein Mann das
Werk von 1 1/2 oder 2 Männern, so wächst die Zufuhr der Arbeit,
wenn auch die Zufuhr der auf dem Markt befindlichen Arbeitskräfte
konstant bleibt. Die so unter den Arbeitern erzeugte Konkurrenz
befähigt den Kapitalisten, den Preis der Arbeit herabzudrücken,
während der fallende Preis der Arbeit ihn umgekehrt befähigt, die
Arbeitszeit noch weiter heraufzuschrauben. 42) Bald jedoch wird
diese Verfügung über anormale, d. h. das gesellschaftliche Durchschnittsniveau überfließende Quanta unbezahlter Arbeit zum Konkurrenzmittel unter den Kapitalisten selbst. Ein Teil des Warenpreises besteht aus dem Preis der Arbeit. Der nicht gezahlte Teil
des Arbeitspreises braucht nicht im Warenpreis zu rechnen. Er
kann dem Warenkäufer geschenkt werden. Dies ist der erste
Schritt, wozu die Konkurrenz treibt. Der zweite Schritt, wozu sie
zwingt, ist, wenigstens einen Teil des durch die Verlängerung des
Arbeitstags erzeugten anormalen Mehrwerts ebenfalls aus dem Verkaufspreis der Ware auszuschließen. In dieser Weise bildet sich
erst sporadisch und fixiert sich nach und nach ein anormal niedriger Verkaufspreis der Ware, der von nun an zur konstanten
Grundlage kümmerlichen Arbeitslohns bei übermäßiger Arbeitszeit
wird, wie er ursprünglich das Produkt dieser Umstände war. Wir
deuten diese Bewegung bloß an, da die Analyse der Konkurrenz
nicht hierhin gehört. Doch mag für einen Augenblick der Kapitalist selbst sprechen.
#572# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
"In Birmingham ist die Konkurrenz unter den Meistern so groß, daß
mancher von uns ngen ist, als Arbeitsanwender zu tun, was er sich
schämen wurde, sonst zu tun; und dennoch wird nicht mehr Geld gemacht (and yet no more money is made), sondern das Publikum allein hat den Vorteil davon." 43)
Man erinnert sich der zwei Sorten Londoner Bäcker, wovon die eine
Brot zum vollen Preise (the "fullpriced" hakers), die andre es
unter seinem normalen Preise verkauft ("the underpriced", "the
undersellers"). Die "fullpriced" denunzieren ihre Konkurrenten
vor der parlamentarischen Untersuchungskommission:
"Sie existieren nur, indem sie erstens das Publikum betrügen"
(durch Fälschung der Ware) und zweitens 18 Arbeitsstunden aus ihren Leuten für den Lohn zwölfstündiger Arbeit herausschinden...
Die unbezahlte Arbeit (the unpaid labour) der Arbeiter ist das
Mittel, wodurch der Konkurrenzkampf geführt wird... Die Konkurrenz unter den Bäckermeistern ist die Ursache der Schwierigkeit
in Beseitigung der Nachtarbeit. Ein Unterverkäufer, der sein Brot
unter dem rnit dem Mehlpreis wechselnden Kostpreis verkauft, hält
sich schadlos, indem er mehr Arbeit aus seinen Leuten herausschlage. Wenn ich nur 12 Stunden Arbeit aus meinen Leuten herausschlage, mein Nachbar dagegen 18 oder 20, muß er mich im Verkaufspreis schlagen. Könnten die Arbeiter auf Zahlung für Überzeit bestehen, so wäre es mit diesem Manöver bald zu Ende... Eine
große Anzahl der von den Unterverkäufern Beschäftigten sind
Fremde, Jungen und andre, die fast mit jedem Arbeitslohn, den sie
kriegen können, vorlieb zu nehmen gezwungen sind." 44)
Diese Jeremiade ist auch deswegen interessant, weil sie zeigt,
wie nur der Schein der Produktionsverhältnisse sich im Kapitalistenhirn widerspiegelt. Der Kapitalist weiß nicht, daß auch der
normale Preis der Arbeit ein bestimmtes Quantum unbezahlter Arbeit einschließt und eben diese unbezahlte Arbeit die normale
Qelle seines Gewinns ist. Die Kategorie der Mehrarbeitszeit existiert überhaupt nicht für ihn, denn sie ist eingeschlossen im
normalen Arbeitstag, den er im Taglohn zu zahlen glaubt. Wohl
aber existiert für ihn die Überzeit, die Verlängerung des Arbeitstags über die dem gewohnten Preis der Arbeit entsprechende
Schranke. Seinem unterverkaufenden Konkurrenten gegenüber besteht
er sogar auf
#573# 18. Kapitel -Der Zeitlohn