NEUNZEHNTES KAPITEL
Der Stücklohn
Der Stücklohn ist nichts als verwandelte Form des Zeitlohns, wie
der Zeitlohn die verwandelte Form des Wertes oder Preises der Arbeitskraft. Beim Stücklohn sieht es auf den ersten Blick aus, als
ob der vom Arbeiter verkaufte Gebrauchswert nicht die Funktion
seiner Arbeitskraft sei, lebendige Arbeit, sondern bereits im
Produkt vergegenständlichte Arbeit, und als ob der Preis dieser
Arbeit nicht wie beim Zeitlohn durch die Bruchzahl Tageswert der
Arbeitskraft / Arbeitstag von gegebner Stundenzahl, sondern durch
die Leistungsfähigkeit des Produzenten bestimmt werde. 45)
Zunächst müßte die Zuversicht, die an diesen Schein glaubt, bereits stark erschüttert werden durch die Tatsache, daß beide Formen des Arbeitslohns zur selben Zeit in denselben Geschäftszweigen nebeneinander bestehn. Z.B.
"Die Setzer von London arbeiten in der Regel nach Stücklohn, während Zeitlohn bei ihnen die Ausnahme bildet. Umgekehrt bei den
Setzern in den Provinzen, wo der Zeitlohn die Regel und der
Stücklohn die Ausnahme. Die Schiffszimmerleute im
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Hafen von London werden nach Stücklohn bezahlt, in allen andren
englischen Häfen nach Zeitlohn." 46)
In denselben Londoner Sattlerwerkstätten wird oft für dieselbe
Arbeit den Franzosen Stücklohn und den Engländern Zeitlohn gezahlt. In den eigentlichen Fabriken, wo Stücklohn allgemein vorherrscht, entziehn sich einzelne Arbeitsfunktionen aus technischen Gründen dieser Messung und werden daher nach Zeitlohn gezahlt. 47) An und für sich ist es jedoch klar, daß die Formverschiedenheit in der Auszahlung des Arbeitslohns an seinem Wesen
nichts ändert, obgleich die eine Form der Entwicklung der kapitalistischen Produktion günstiger sein mag als die andre.
Der gewöhnliche Arbeitstag betrage 12 Stunden, wovon 6 bezahlt, 6
unbezahlt. Sein Wertprodukt sei 6 sh., das einer Arbeitsstunde
daher 6 d. Es stelle sich erfahrungsmäßig heraus, daß ein Arbeiter, der mit dem Durchschnittsgrad von Intensität und Geschick
arbeitet, in der Tat also nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion eines Artikels verwendet, 24 Stücke, ob
diskret, oder meßbare Teile eines kontinuierlichen Machwerks, in
12 Stunden liefert. So ist der Wert dieser 24 Stücke, nach Abzug
des in ihnen enthaltnen konstanten Kapitaltells, 6 sh. und der
Wert des einzelnen Stücks 3 d. Der Arbeiter erhält per Stück 1
1/2 d. und verdient so in 12 Stunden 3 sh. Wie es beim Zeitlohn
gleichgültig ist, ob man annimmt, daß der Arbeiter 6 Stunden für
sich und 6 für den Kapitalisten, oder von jeder Stunde die eine
Hälfte für sich und die andre für den Kapitalisten arbeitet, so
auch hier, ob man sagt, jedes einzelne Stück sei halb bezahlt und
halb unbezahlt, oder der Preis von 12 Stücken ersetze nur den
Wert der Arbeitskraft, während in den 12 andern sich der Mehrwert
verkörpere.
#576# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
Die Form des Stücklohns ist ebenso irrationell als die des Zeitlohns. Während z.B. zwei Stück Ware, nach Abzug des Werts der in
ihnen aufgezehrten Produktionsmittel, als Produkt einer Arbeitsstunde 6 d. wert sind, erhält der Arbeiter für sie einen Preis
von 3 d. Der Stücklohn drückt unmittelbar in der Tat kein Wertverhältnis aus. Es handelt sich nicht darum, den Wert des Stücks
durch die in ihm verkörperte Arbeitszeit zu messen, sondern umgekehrt die vom Arbeiter verausgabte Arbeit durch die Zahl der von
ihm produzierten Stücke. Beim Zeitlohn mißt sich die Arbeit an
ihrer unmittelbaren Zeitdauer, beim Stücklohn am Produktenquantum, worin Arbeit während bestimmter Zeitdauer verdichtet. 48)
Der Preis der Arbeitszeit selbst ist schließlich bestimmt durch
die Gleichung: Wert der Tagesarbeit = Tageswert der Arbeitskraft.
Der Stücklohn ist also nur eine modifizierte Form des Zeitlohns.
Betrachten wir nun etwas näher die charakteristischen Eigentümlichkeiten des Stücklohns.
Die Qualität der Arbeit ist hier durch das Werk selbst kontrolliert, das die durchschnittliche Güte besitzen muß, soll der
Stückpreis voll bezahlt werden. Der Stücklohn wird nach dieser
Seite hin zu fruchtbarster Quelle von Lohnabzügen und kapitalistischer Prellerei.
Er bietet den Kapitalisten ein ganz bestimmtes Maß für die Intensität der Arbeit. Nur Arbeitszeit, die sich in einem vorher bestimmten und erfahrungsmäßig festgesetzten Warenquantum verkörpert, gilt als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und wird
als solche bezahlt. In den größeren Schneiderwerkstätten Londons
heißt daher ein gewisses Stück Arbeit, z.B. eine Weste usw.,
Stunde, halbe Stunde usw., die Stunde zu 6 d. Aus der Praxis ist
bekannt, wieviel das Durchschnittsprodukt einer Stunde. Bei neuen
Moden, Reparaturen usw. entsteht Streit zwischen Anwender und Arbeiter, ob ein bestimmtes Arbeitsstück = einer Stunde usw., bis
auch hier die Erfahrung entscheidet. Ähnlich in den Londoner Möbelschreinereien usw. Besitzt der Arbeiter nicht die durchschnittliche Leistungsfähigkeit, kann er daher ein bestimmtes Minimum vom Tagwerk nicht liefern, so entläßt man ihn. 49)
#577# 19. Kapitel - Der Stücklohn
Da Qualität und Intensität der Arbeit hier durch die Form des Arbeitslohns selbst kontrolliert werden, macht sie großen Teil der
Arbeitsaufsicht überflüssig. Sie bildet daher sowohl die Grundlage der früher geschilderten modernen Hausarbeit als eines hierarchisch gegliederten Systems der Exploitation und Unterdrückung.
Das letztere besitzt zwei Grundformen. Der Stücklohn erleichtert
einerseits das Zwischenschleben von Parasiten zwischen Kapitalist
und Lohnarbeiter, Unterverpachtung der Arbeit (subletting of labour). Der Gewinn der Zwischenpersonen fließt ausschließlich aus
der Differenz zwischen dem Arbeitspreis, den der Kapitalist
zahlt, und dem Teil dieses Preises, den sie dem Arbeiter wirklich
zukommen lassen. 50) Dies System heißt in England charakteristisch das "Sweating-System" (Ausschweißungssystem). Andrerseits
erlaubt der Stücklohn dem Kapitalisten, mit dem Hauptarbeiter in der Manufaktur mit dem Chef einer Gruppe, in den Minen mit dem
Ausbrecher der Kohle usw., in der Fabrik mit dem eigentlichen Maschinenarbeiter - einen Kontrakt für soviel per Stück zu schließen, zu einem Preis, wofür der Hauptarbeiter selbst die Anwerbung
und Zahlung seiner Hilfsarbeiter übernimmt. Die Exploitation der
Arbeiter durch das Kapital verwirklicht sich hier vermittelst der
Exploitation des Arbeiters durch den Arbeiter. 51)
Den Stücklohn gegeben, ist es natürlich das persönliche Interesse
des Arbeiters, seine Arbeitskraft Möglichst intensiv
ar)zuspannen, was dem Kapitalisten eine Erhöhung des Normalgrads
der Intensität erleichtert. 51a)
#578# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
Es ist ebenso das persönliche Interesse des Arbeiters, den Arbeitstag zu verlängern, weil damit sein Tages- oder Wochenlohn
steigt. 52) Es tritt damit die beim Zeitlolin bereits geschilderte Reaktion ein, abgesehn davon, daß die Verlängerung des Arbeitstags, selbst bei konstant bleibendem Stücklohn, an und für
sich eine Senkung im Preise der Arbeit einschließt.
Beim Zeitlohn herrscht mit wenigen Ausnahmen gleicher Arbeitslohn
für dieselben Funktionen, während beim Stücklohn der Preis der
Arbeitszeit zwar durch ein bestimmtes Produktenquantum gemessen
ist, der Tagsoder Wochenlohn dagegen wechselt mit der individuellen Verschiedenheit der Arbeiter, wovon der eine nur das Minimum
des Produkts in einer gegebnen Zeit liefert, der andre den Durchschnitt, der dritte mehr als den Durchschnitt. In bezug auf die
wirkliche Einnahme treten hier also große Differenzen ein je nach
dem verschiednen Geschick, Kraft, Energie, Ausdauer usw. der individuellen Arbeiter. 53) Dies ändert natürlich nichts an dem
allgemeinen Verhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit. Erstens
gleichen
#579# 19. Kapitel - Der Stüddohn
sich die individuellen Unterschiede für die Gesamtwerkstatt aus,
so daß sie in einer bestimmten Arbeitszeit das Durchschnittsprodukt liefert und der gezahlte Gesamtlohn der Durchschnittslohn
des Geschäftszweigs sein wird. Zweitens bleibt die Proportion
zwischen Arbeitslohn und Mehrwert unverändert, da dem individuellen hn des einzelnen Arbeiters die von ihm individuell gelieferte
Masse von Mehrwert entspricht. Aber der größere Spielraum, den
der Stücklohn der Individualität bietet, strebt einerseits dahin,
die Individualität und damit Freiheitsgefühl, Selbständigkeit und
Selbstkontrolle der Arbeiter zu entwickeln, andrerseits ihre Konkurrenz unter- und gegeneinander. Er hat daher eine Tendenz, mit
der Erhebung individueller Arbeitslöhne über das Durchschnittsniveau dies Niveau selbst zu senken. Wo aber bestimmter Stücklohn
sich seit lange traditionell befestigt hatte und seine Herabsetzung daher besondre Schwierigkeiten bot, flüchteten die Meister
ausnahmsweise auch zu seiner gewaltsamen Verwandlung in Zeitlohn.
Hiergegen z.B. 1860 großer strike unter den Bandwebern von Coventry. 54) Der Stücklohn ist endlich eine Hauptstütze des früher
geschilderten Stundensysterns. 55)
#580# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
Aus der bisherigen Darstellung ergibt sich, daß der Stücklohn die
der kapitalistischen Produktionsweise entsprechendste Form des
Arbeitslohns ist. Obgleich keineswegs neu - er figuriert neben
dem Zeitlohn offiziell u.a. in den französischen und englischen
Arbeiterstatuten des vierzehnten Jahrhunderts -, gewinnt er doch
erst größren Spielraum während der eigentlichen Manufakturperiode. In der Sturm- und Drangperiode der großen Industrie, namentlich von 1797 bis 1815, dient er als Hebel zur Verlängrung der
Arbeitszeit und Herabsetzung des Arbeitslohns. Sehr wichtiges Material für die Bewegung des Arbeitslohns während jener Periode
findet man in den Blaubüchern: "Report and Evidence from the Select Committee on Petitions respecting the Corn Laws"
(Parlamentssession 1813/14) und "Reports from the Lords' Committee, on the state of the Growth, Commerce, and Consumption of
Grain, and all Laws relating thereto". (Session 1814/15.) Man
findet hier den dokumentarischen Nachweis für die fortwährende
Senkung des Arbeitspreises seit dem Beginn des Antijakobinerkriegs. In der Weberei z.B. war der Stücklohn so gefallen, daß
trotz des sehr verlängerten Arbeitstags der Taglohn jetzt niedriger stand als vorher.
"Die reale Einnahme des Webers ist sehr viel weniger als früher:
seine Superiorität über den gewöhnlichen Arbeiter, die erst sehr
groß war, ist fast ganz verschwunden. In der Tat, der Unterschied
in den Löhnen geschickter und gewöhnlicher Arbeit ist jetzt viel
unbedeutender als während irgendeiner früheren Periode." 56)
Wie wenig die mit dem Stücklohn gesteigerte Intensität und Ausdehnung der Arbeit dem ländlichen Proletariat fruchteten, zeige
folgende einer Parterschrift für Landlords und Pächter entlehnte
Stelle:
"Bei weitem der größere Teil der Agrikulturoperationen wird durch
Leute verrichtet, die für den Tag oder auf Stückwerk gedungen
sind. Ihr Wochenlohn beträgt ungefähr 12 sh.; und obgleich man
voraussetzen mag, daß ein Mann bei Stücklohn, unter dem größeren
Arbeitssporn, 1 sh. oder vielleicht 2 sh. mehr verdient als beim
Wochenlohn, so findet man dennoch, bei Schätzung seiner Gesamteinnahme, daß sein Verlust an Beschäftigung im Lauf des Jahrs
diesen Zuschuß aufwiegt... Man wird ferner im allgemeinen finden,
daß die Löhne dieser Männer ein gewisses Verhältnis zum Preis der
notwendigen Lebensmittel haben, so daß ein Mann mit zwei Kindern
fähig ist, seine Familie ohne Zuflucht zur Pfarreiunterstützung
zu erhalten." 57)
#581# 19. Kapitel - Der Stücklohn
Malthus bemerkte damals mit Bezug auf die vom Parlament veröffentlichten Tatsachen:
"Ich gestehe, ich sehe mit Mißvergnügen die große Ausdehnung der
Praxis des Stücklohns. Wirklich harte Arbeit während 12 oder 14
Stunden des Tags, für irgend längere Zeitperioden, ist zuviel für
ein menschliches Wesen." 58)
In den dem Fabrikgesetz unterworfenen Werkstätten wird Stücklohn
allgemeine Regel, weil das Kapital dort den Arbeitstag nur noch
intensiv ausweiten kann. 59)
Mit der wechselnden Produktivität der Arbeit stellt dasselbe Produktenquantum wechselnde Arbeitszeit dar. Also wechselt auch der
Stücklohn, da er Preisausdruck einer bestimmten Arbeitszeit. In
unserem obigen Beispiel wurden in 12 Stunden 24 Stück produziert,
während das Wertprodukt der 12 Stunden 6 sh. war, der Tageswert
der Arbeitskraft 3 sh., der Preis der Arbeitsstunde 3 d. und der
Lohn für ein Stück 1 1/2 d. In einem Stück war 1/2 Arbeitsstunde
eingesaugt. Liefert derselbe Arbeitstag nun etwa infolge verdoppelter Produktivität der Arbeit 48 Stück statt 24, und bleiben
alle andern Umstände unverändert, so sinkt der Stücklohn von 1
1/2d. auf 3/4 d., da jedes Stück jetzt nur noch 1/4 statt 1/2 Arbeitsstunde darstellt. 24 x 1 1/2 d. = 3 sh. und ebenso 48 x 3/4
d. = 3 sh. In anderen Worten: Der Stücklohn wird in demselben
Verhältnis heruntergesetzt, worin die Zahl der während derselben
Zeit produzierten Stücke wächst 60), also die auf dasselbe Stück
verwandte Arbeitszeit abnimmt. Dieser Wechsel des Stücklohns,
#582# VI. Abschnitt - Der Arbeitslohn
soweit rein nominell, ruft beständige Kämpfe zwischen Kapitalist
und Arbeiter hervor. Entweder, weil der Kapitalist den Vorwand
benutzt, um wirklich den Preis der Arbeit herabzusetzen, oder
weil die gesteigerte Produktivkraft der Arbeit von gesteigerter
Intensität derselben begleitet ist. Oder weil der Arbeiter den
Schein des Stücklohns, als ob ihm sein Produkt gezahlt werde und
nicht seine Arbeitskraft, ernst nimmt und sich daher gegen eine
Lohnherabsetzung sträubt, welcher die Herabsetzung im Verkaufspreis der Ware nicht entspricht.
"Die Arbeiter überwachen sorgfältig den Preis des Rohmaterials
und den Preis der fabrizierten Güter und sind so fähig, die Profite ihrer Meister genau zu veranschlagen." 61)
Solchen Anspruch 1*) fertigt das Kapital mit Recht als groben
Irrtum über die Natur der Lohnarbeit ab. 62) Es zetert über diese
Anmaßung, Steuern auf den Fortschritt der Industrie zu legen, und
erklärt rundweg, daß die Produktivität der Arbeit 3*) den Arbeiter überhaupt nichts angeht. 63)