EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Einfache Reproduktion
Welches immer die gesellschaftliche Form des Produktionsprozesses, er muß kontinuierlich sein oder periodisch stets von neuem
dieselben Stadien durchlaufen. So wenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, so wenig kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß.
Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der
Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren,
d.h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in
Produktionsnuttel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren
Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z.B., verbrauchten Produktionsmittel, d.h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in
natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem
dem Produktionsprozeß einverleibt wird. Ein bestimmtes Qantum des
jährlichen Produkts gehört also der Produktion. Von Haus aus für
die produktive Konsumtion bestimmt, existiert es großenteils in
Naturalformen, die von selbst die individuelle Konsumtion ausschließen.
Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie
in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur
als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu
reproduzieren, d.h. als sich verwertenden Wert. Die ökonomische
Charaktermaske des Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert.
Hat z.B. die vorgeschoßne Geldsumme von 100 Pfd.St. sich dieses
Jahr in Kapital verwandelt und einen Mehrwert
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von 20 Pfd.St. produziert, so muß sie das nächste Jahr usf. dieselbe Operation wiederholen. Als periodisches Inkrement des Kapitalwerts, oder periodische Frucht des prozessierenden Kapitals,
erhält der Mehrwert die Form einer aus dem Kapital entspringenden
Revenue. 1)
Dient diese Revenue dem Kapitalisten nur als Konsumtionsfonds
oder wird sie ebenso periodisch verzehrt wie gewonnen, so findet,
unter sonst gleichbleibenden Umständen, einfache Reproduktion
statt. Obgleich letztere nun bloße Wiederholung des Produktionsprozesses auf derselben Stufenleiter, drückt diese bloße Wiederholung oder Kontinuität dem Prozesse gewisse neue Charaktere auf
oder löst vielmehr die Scheincharaktere seines nur vereinzelten
Vorgangs auf.
Der Produktionsprozeß wird eingeleitet mit dem Kauf der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit, und diese Einleitung erneuert sich
beständig, sobald der Verkaufstermin der Arbeit fällig und damit
eine bestimmte Produktionsperiode, Woche, Monat usw., abgelaufen
ist. Gezahlt wird der Arbeiter aber erst, nachdem seine Arbeitskraft gewirkt und sowohl ihren eignen Wert als den Mehrwert in
Waren realisiert hat. Er hat also wie den Mehrwert, den wir
einstweilen nur als Konsumtionsfonds des Kapitalisten betrachten,
so den Fonds seiner eignen Zahlung, das variable Kapital, produziert, bevor es ihm in der Form des Arbeitslohnes zurückfließt,
und er wird nur so lange beschäftigt, als er ihn beständig reproduziert. Daher die im sechzehnten Kapitel unter II. erwähnte Formel der Ökonomen, die das Salair als Anteil am Produkt selbst
darstellt. 2) Es ist ein Teil des vom Arbeiter selbst beständig
reproduzierten Produkts, das ihm in der Form des Arbeitslohns beständig zurückfließt. Der Kapitalist zahlt ihm den Warenwert allerdings in Geld. Dies Geld ist aber nur die verwandelte Form des
Arbeitsprodukts. Während der Arbeiter einen Teil der Produktionsmittel in Produkt verwandelt, rückverwandelt sich ein Teil seines
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früheren Produkts in Geld. Es ist seine Arbeit von voriger Woche
oder vom letzten halben Jahre, womit seine Arbeit von heute oder
vom nächsten halben Jahr gezahlt wird. Die Illusion, welche die
Geldform erzeugt, verschwindet sofort, sobald statt des einzelnen
Kapitalisten und des einzelnen Arbeiters Kapitalistenklasse und
Arbeiterklasse betrachtet werden. Die Kapitalistenklasse gibt der
Arbeiterklasse beständig In Geldform Anweisungen auf einen Teil
des von der letzteren produzierten und von der erstren angeeigneten Produkts. Diese Anweisungen gibt der Arbeiter der Kapitalistenklasse ebenso beständig zurück und entzieht ihr damit den ihm
selbst zufallenden Teil seines eignen Produkts. Die Warenform des
Produkts und die Geldform der Ware verkleiden die Transaktion.
Das variable Kapital ist also nur eine besondre historische Erscheinungsform des Fonds von Lebensmitteln oder des Arbeitsfonds,
den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung und Reproduktion bedarf und den er in allen Systemen der gesellschaftlichen Produktion stets selbst produzieren und reproduzieren muß. Der Arbeitsfonds fließt ihm nur beständig in Form von Zahlungsmitteln seiner
Arbeit zu, weil sein eignes Produkt sich beständig in der Form
des Kapitals von ihm entfernt. Aber diese Erscheinungsform des
Arbeitsfonds ändert nichts daran, daß dem Arbeiter seine eigne
vergegenständlichte Arbeit vom Kapitalisten vorgeschossen wird.
3) Nehmen wir einen Fronbauer. Er arbeitet mit seinen eignen Produktionsmitteln auf seinem eignen Acker z.B. 3 Tage in der Woche.
Die drei andren Wochentage verrichtet er Fronarbeit auf dem herrschaftlichen Gut. Er reproduziert seinen eignen Arbeitsfonds beständig, und dieser erhält ihm gegenüber nie die Form von einem
Dritten für seine Arbeit vorgeschoßner Zahlungsmittel. Im Ersatz
erhält auch niemals seine unbezahlte Zwangsarbeit die Form freiwilliger und bezahlter Arbeit. Wenn morgen der Gutsherr den Acker, das Zugvieh, die Samen, kurz die Produktionsmittel des Fronbauern sich selbst aneignet, so hat dieser von nun an seine Arbeitskraft an den Fronherrn zu verkaufen. Unter sonst gleichbleibenden Umständen wird er nach wie vor 6 Tage in der Woche arbeiten, 3 Tage für sich selbst, 3 für den Exfronherrn, der jetzt in
einen Lohnherrn verwandelt ist. Er wird nach wie vor die Produktionsmittel als Produktionsmittel vernutzen und ihren Wert auf
das Produkt übertragen. Nach wie vor wird ein bestimmter Teil des
Produkts in die Reproduktion eingehn. Wie aber die Fronarbeit
#594# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
die Form der Lohnarbeit, nimmt der vom Fronbauer nach wie vor
produzierte und reproduzierte Arbeitsfonds die Form eines ihm vom
Fronherrn vorgeschoßnen Kapitals an. Der bürgerliche Ökonom, dessen beschränktes Hirn die Erscheinungsform von dem, was darin erscheint, nicht trennen kann, schließt die Augen vor der Tatsache,
daß selbst noch heutzutag der Arbeitsfonds nur ausnahmsweis auf
dem Erdrund in der Form von Kapital auftritt. 4)
Allerdings verliert das variable Kapital nur den Sinn eines aus
dem eignen Fonds des Kapitalisten vorgeschoßnen Wertes 4a) sobald
wir den kapitalistischen Produktionsprozeß im beständigen Fluß
seiner Erneuerung betrachten. Aber er muß doch irgendwo und irgendwann anfangen. Von unsrem bisherigen Standpunkt ist es daher
wahrscheinlich, daß der Kapjtalist irgendeinmal durch irgendeine,
von unbezahlter fremder Arbeit unabhängige, ursprüngliche Akkumulation Geldbesitzer ward und daher den Markt als Käufer von Arbeitskraft beschreiten konnte. Indes bewirkt die bloße Kontinuität des kapitalistischen Produktionsprozesses, oder die einfache
Reproduktion, noch andre sonderbare Wechsel, die nicht nur den
variablen Kapitalteil ergreifen, sondern das Gesamtkapital.
Beträgt der mit einem Kapital von 1000 Pfd.St. periodisch, z.B.
jährlich, erzeugte Mehrwert 200 Pfd.St. und wird dieser Mehrwert
jährlich verzehrt, so ist es klar, daß nach fünfiähriger Wiederholung desselben Prozesses die Summe des verzehrten Mehrwerts = 5
x 200 ist oder gleich dem ursprünglich vorgeschoßnen Kapitalwert
von 1000 Pfd.St. Würde der jährliche Mehrwert nur tellweis verzehrt, z.B. nur zur Hälfte, so ergäbe sich dasselbe Resultat nach
zehnjähriger Wiederholung des ProduktionsProzesses, denn 10 x 100
= 1000. Allgemein: Der vorgeschoßne Kapitalwert, dividiert durch
den jährlich verzehrten Mehrwert, ergibt die Jahresanzahl oder
die Anzahl von Reproduktionsperioden, nach deren Ablauf das ursprünglich vorgeschoßne Kapital vom Kapitalisten aufgezehrt und
daher verschwunden ist. Die Vorstellung des Kapitalisten, daß er
das Produkt der fremden unbezahlten Arbeit, den Mehrwert, verzehrt und den
#595# 21. Kapitel - Einfache Reproduktion
ursprünglichen Kapitalwert erhält, kann absolut nichts an der
Tatsache ändern. Nach Abfluß einer gewissen Jahreszahl ist der
von ihm geeignete Kap,talwert glech der Summe des während derselben Jahreszahl ohne Äquivalent angeeigneten Mehrwerts und die von
ihm verzehrte Wertsumme gleich dem ursprünglichen Kapitalwert.
Allerdings behält er in der Hand ein Kapital, dessen Größe sich
nicht verändert hat, wovon ein Teil, Gebäude, Maschinen usw., bereits vorhanden war, als er sein Geschäft in Gang brachte. Aber
hier handelt es sich vom Wert des Kapitals und nicht von seinen
materiellen Bestandteilen. Wenn jemand sein ganzes Besitztum aufzehrt dadurch, daß er Schulden aufnimmt, die dem Wert dieses Besitztums gleichkommen, so repräsentiert eben das ganze Besitztum
nur die Gesamtsumme seiner Schulden. Und ebenso, wenn der Kapitalist das Äquivalent seines vorgeschoßnen Kapitals aufgezehrt hat,
repräsentiert der Wert dieses Kapitals nur noch die Gesamtsumme
des von ihm unentgeltlich angeeigneten Mehrwerts. Kein Wertatom
seines alten Kapitals existiert fort.
Ganz abgesehn von aller Akkumulation verwandelt also die bloße
Kontinuität des Produktionsprozesses, oder die einfache Reproduktion, nach kürzerer oder längerer Periode jedes Kapital notwendig
in akkumuliertes Kapital oder kapitallsierten Mehrwert. War es
selbst bei seinem Eintritt in den Produktionsprozeß persönlich
erarbeitetes Eigentum seines Anwenders, früher oder später wird
es ohne Äquivalent angeeigneter Wert oder Materlatur, ob in Geldform oder anders, unbezahlter fremder Arbeit.
Wir sahen im vierten Kapitel: Um Geld in Kapital zu verwandeln,
genügte nicht das Vorhandensein von Warenproduktion 1*) und Warenzirkulation. Es mußten erst, hier Besitzer von Wert oder Geld,
dort Besitzer der wertschaffenden Substanz; hier Besitzer von
Produktions- und Lebensmitteln, dort Besitzer von nichts als Arbeitskraft, einander als Käufer und Verkäufer gegenübertreten.
Scheidung zwischen dem Arbeitsprodukt und der Arbeit selbst, zwischen den objektiven Arbeitsbedingungen und der subjektiven Arbeitskraft, war also die tatsächlich gegebne Grundlage, der Ausgangspunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses.
Was aber anfangs nur Ausgangspunkt war, wird vermittelst der bloßen Kontinuität des Prozesses, der einfachen Reproduktion, stets
aufs neue produziert und verewigt als eignes Resultat der kapitalistischen Produktion. Einerseits verwandelt der Produktionsprozeß fortwährend den stofflichen Reichtum in Kapital, in Verwertungs- und Genußmittel für den Kapitalisten. Andrerseits kommt
der Arbeiter beständig aus dem Prozeß heraus,
#596# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
wie er in ihn eintrat - persönliche Quelle des Reichtums, aber
entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Da vor seinem Eintritt in den Prozeß seine eigne Arbeit
ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozesses beständig in fremdem Produkt. Da der Produktionsprozeß
zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende
Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, ProduktionsmitteI, die den Produzenten anwenden. 5) Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm
fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive,
von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter." Diese beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non 1*) der kapitalistischen Produktion.
Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion
selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und
verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist
gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das
für den Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies
ist seine individuelle Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In
der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört
dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen
#597# 21. Kapitel - Einfache Reproduktion
außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist
das Leben des Kapitalisten, das der andern st das Leben des Arbeiters selbst.
Bei Betrachtung des "Arbeitstags" usw. zeigte sich gelegentlich,
daß der Arbeiter oft gezwungen ist, seine individuelle Konsumtion
zu einem bloßen Inzident des Produktionsprozesses zu machen. In
diesem Fall setzt er sich Lebensmittel zu, um seine Arbeitskraft
im Gang zu halten, wie der Dampfmaschine Kohle und Wasser, dem
Rad Öl zugesetzt wird. Seine Konsuintionsmittel sind dann bloß
Konsumtionsmittel eines Produktionsmittels, seine individuelle
Konsumtion direkt produktive Konsurntion. Dies erscheint jedoch
als ein dem kapitalistischen Produktionsprozeß unwesentlicher
Mißbrauch. 7)
Anders sieht die Sache aus, sobald wir nicht den einzelnen Kapitalisten und den einzelnen Arbeiter betrachten, sondern die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse, nicht den vereinzelten
Produktionsprozeß der Ware, sondern den kapitalistischen Produktionsprozeß in seinem Fluß und in seinem gesellschaftlichen Umfang. - Wenn der Kapitalist einen Teil seines Kapitals in Arbeitskraft umsetzt, verwertet er damit sein Gesamtkapital. Er
schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Er profitiert nicht nur
von dem, was er vom Arbeiter empfängt, sondern auch von dem, was
er ihm gibt. Das im Austausch gegen Arbeitskraft veräußerte Kapital wird in Lebensmittel verwandelt, deren Konsumtion dazu dient,
Muskel, Nerven, Knochen, Hirn vorhandner Arbeiter zu reproduzieren und neue Arbeiter zu zeugen. Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten
unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die
individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der
Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder
außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb
des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht. Es tut nichts zur Sache, daß der Arbeiter seine individuelle Konsumtion sich selbst und nicht dem Kapitalisten zulieb vollzieht. So bleibt der Konsum des Lastviehs
nicht minder ein notwendiges Moment des Produktionsprozesses,
weil das Vieh selbst genießt, was es frißt. Das beständige Erhaltung
#598# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung
für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der
Arbeiter überlassen. Er sorgt nur dafür, ihre individuelle Konsumtion möglichst auf das Notwendige einzuschränken, und ist himmelweit entfernt von jener südamerikanischen Roheit, die den Arbeiter zwingt, substantiellere statt weniger substantieller Nahrungsmittel einzunehmen. 8)
Daher betrachtet auch der Kapitalist und sein Ideolog, der politische Ökonom, nur den Teil der individuellen Konsumtion des Arbeiters als produktiv, der zur Verewigung der Arbeiterklasse
erheischt ist, also in der Tat verzehrt werden muß, damit das Kapital die Arbeitskraft verzehre,was der Arbeiter außerdem zu seinem Vergnügen verzehren mag, ist unproduktive Konsumtion. 9)
Würde die Akkumulation des Kapitals eine Erhöhung des Arbeitslohns und daher Vermehrung der Konsumtionsmittel des Arbeiters
verursachen ohne Konsum von mehr Arbeitskraft durch das Kapital,
so wäre das zuschüssige Kapital unproduktiv konsumiert. 10) In
der Tat: die individuelle Konsumtion des Arbeiters ist für ihn
selbst unproduktiv, denn sie reproduziert nur das bedürftige Individuum; sie ist produktiv fÜr den Kapitalisten und den Staat,
denn sie ist Produktion der den fremden Reichtum produzierenden
Kraft. 11)
Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse,
auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebensosehr Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument. Selbst ihre
individuelle Konsumtion
#599# 21. Kapitel - Einfache Reproduktion
ist innerhalb gewisser Grenzen nur ein Moment des Reproduktionsprozesses des Kapitals. Der Prozeß aber sorgt dafür, daß diese
selbstbewußten Produktionsinstrumente nicht weglaufen, indem er
ihr Produkt beständig von ihrem Pol zum Gegenpol des Kapitals
entfernt. Die individuelle Konsumtion sorgt einerseits für ihre
eigne Erhaltung und Reproduktion, andrerseits durch Vernichtung
der Lebensmittel für ihr beständiges Wiedererscheinen auf dem Arbeitsmarkt. Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden.
Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherrn und die fictio juris des Kontrakts aufrechterhalten.
Früher machte das Kapital, wo es ihm nötig schien, sein Eigentumsrecht auf den freien Arbeiter durch Zwangsgesetz geltend. So
war z.B. die Emigration der Maschinenarbeiter in England bis 1815
bei schwerer Strafe verboten.
Die Reproduktion der Arbeiterklasse schließt zugleich die Überlieferung und Häufung des Geschicks von einer Generation zur andren ein. 12) Wie sehr der Kapitalist das Dasein einer solchen geschickten ArbeiterkIasse unter die ihm zugehörigen Produktionsbedingungen zählt, sie in der Tat als die reale Existenz seines variablen Kapitals betrachtet, zeigt sich, sobald eine Krise deren
Verlust androht. infolge des Amerikanischen Bürgerkriegs und der
ihn begleitenden Baumwollnot wurde bekanntlich die Mehrzahl der
Baumwollarbeiter in Lancashire usw. aufs Pflaster geworfen. Aus
dem Schoß der Arbeiterklasse selbst, wie andrer Gesellschaftsschichten, erhob sich der Ruf nach Staatsunterstützung oder freiwilliger Nationalkollekte, um die Emigration der "Überflüssigen"
in englische Kolonien oder die Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Damals veröffentlichte die "Times" (24. März 1863) einen
Brief von Edmund Potter, früher Präsident der Manchester Handelskammer. Sein Brief ward mit Recht im Unterhaus als "das Manifest
der Fabrikanten" bezeichnet. 13) Wir geben hier einige charakteristische
#600# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
Stellen, worin der Eigentunistitel des Kapitals auf die Arbeitskraft unverblümt ausgesprochen wird.
"Den Baumwollarbeitern mag gesagt werden, daß ihre Zufuhr zu groß
ist... sie müsse vielleicht um ein Dritteil reduziert werden, und
dann würde eine gesunde Nachfrage für die übrigen zwei Dritteile
eintreten... Die öffentliche Meinung dringt auf Emigration... Der
Meister" (d.h. der Baumwollfabrikant) "kann nicht willig seine
Arbeitszufuhr entfernt sehn; er mag denken, daß das ebenso ungerecht als unrichtig ist... Wenn die Emigration aus öffentlichen
Fonds unterstützt wird, hat er ein Recht, Gehör zu verlangen und
vielleicht zu protestieren."
Selbiger Potter setzt dann weiter auseinander, wie nützlich die
Baumwollindustrie, wie "sie unzweifelhaft die Bevölkerung aus Irland und den englischen Agrikulturdistrikten wegdrainiert hat",
wie ungeheuer ihr Umfang, wie sie im Jahr 1860 5/13 des ganzen
englischen Exporthandels lieferte, wie sie nach wenigen Jahren
sich wieder ausdehnen werde durch Erweiterung des Markts, besonders Indiens, und durch Erzwingung hinreichender "Baumwollzufuhr,
zu 6 d. das Pfund". Er fährt dann fort:
"Zeit - ein, zwei, drei Jahre vielleicht - wird die nötige Quantität produzieren... Ich machte dann die Frage stellen, ist diese
Industrie wert, sie festzuhalten, ist es der Mühe wert, die Maschinerie" (nämlich die lebendigen Arbeitsrnaschinen) "in Ordnung
zu halten, und ist es nicht die größte Narrheit, daran zu denken,
sie aufzugeben! Ich glaube das. Ich will zugeben, daß die Arbeiter nicht Eigentum sind (I allow that the workers are not a property), nicht das Eigentum Lancashires und der Meister; aber sie
sind die Stärke beider; sie sind die geistige und geschulte
Kraft, die in einer Generation nicht ersetzt werden kann, die andere Maschinerie dagegen, woran sie arbeiten (the mere machinery
which they work), könnte zum großen Teil mit Vorteil ersetzt und
verbessert werden in zwölf Monaten. 14) Ermuntert oder erlaubt
(!) die Emigration der Arbeitskraft, und was wird aus dem Kapitalisten? (Encourage or allow the working power to emigrate, and
what of the capitalist?)"
#601# 21. Kapitel - Einfache Reproduktion
Dieser Herzensstoß erinnert an Hofmarschall Kalb. [133]
"....Nehmt den Rahm der Arbeiter weg, und das fixe Kapital wird
in hohem Grade entwertet und das zirkulierende Kapital wird sich
nicht dem Kampf mit schmaler Zufuhr einer niedrigeren Sorte von
Arbeit aussetzen... Man sagt uns, die Arbeiter selbst wünschen
die Emigration. Es ist sehr natürlich, daß sie das tun... Reduziert, komprimiert das Baumwollgeschäft durch Wegnahme seiner Arbeitskräfte (by taking away its working power), durch Verminderung ihrer Lohnverausgabung sage um 1/3 oder 5 Millionen, und was
wird dann aus der nächsten Klasse über ihnen, den Kleinkrämern?
Was aus den Grundrenten, was aus der Miete der cottages?... was
aus dem kleinen Pächter, dem besseren Hausbesitzer und dem Grundeigentümer? Und sagt nun, ob irgendein Plan für alle Klassen des
Landes selbstmörderischer sein kann als dieser, die Nation zu
schwächen durch den Export ihrer besten Fabrikarbeiter und die
Entwertung eines Teils ihres produktivsten Kapitals und Reichtums?" "Ich rate zu einer Anleihe von 5 bis 6 Millionen, über 2
oder 3 Jahre verteilt, administriert durch Spezialkommissäre,
beigeordnet den Armenverwaltungen in den Baumwolldistrikten, unter speziellen gesetzlichen Regulationen, mit gewisser Zwangsarbeit, um die moralische Valuta der Almosenempfänger aufrechtzuerhalten... Kann es irgend etwas Schlimmeres geben für Grundeigentümer oder Meister (can anything be worse for landowners or masters), als ihre besten Arbeiter aufzugeben und die übrigbleibenden zu demoralisieren und zu verstimmen durch eine ausgedehnte
entleerende Emigration und Entleerung von Wert und Kapital in einer ganzen Provinz?"
Potter, das auserwählte Organ der Baumwollfahrikanten, unterscheidet doppelte "Maschinerie", deren jede dem Kapitalisten gehört und wovon die eine in seiner Fabrik steht, die andre des
Nachts und Sonntags auswärtig in cottages haust. Die eine ist
tot, die andre lebendig. Die tote Maschinerie verschlechtert und
entwertet sich nicht nur jeden Tag, sondern von ihrer existierenden Masse veraltet ein großer Teil durch den steten technischen
Fortschritt beständig so sehr, daß sie vorteilhaft und in wenigen
Monaten durch neuere Maschinerie ersetzbar. Die lebendige Maschinerie verbessert sich umgekehrt, je länger sie währt, je mehr sie
das Geschick von Generationen in sich aufhäuft. Die "Times" antwortete dem Fabrikmagnaten u.a.:
"Herr E. Potter ist so impressioniert von der außerordentlichen
und absoluten Wichtigkeit der Baumwollmeister, daß er, um diese
Klasse zu erhalten und ihr Metier zu verewigen, eine halbe Million der Arbeiterklasse wider ihren Willen in ein großes moralisches Workhouse einsperren will. Ist diese Industrie wert, sie
festzuhalten? fragt
#602# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
Herr Potter. Sicher, durch alle ehrbaren Mittel, antworten wir.
Ist es der Mühe wert, die Maschinerie in Ordnung zu halten? fragt
wieder Herr Potter. Hier stutzen wir. Unter der Maschinerie versteht Herr Potter die menschliche Maschinerie, denn er beteuert,
daß er sie nicht als absolutes Eigentum zu behandeln vorhat. Wir
müssen gestehn, wir halten es nicht der Mühe wert oder selbst für
möglich, die menschliche Maschinerie in Ordnung zu halten, d.h.
sie einzusperren und einzuölen, bis man ihrer bedarf. Menschliche
Maschinerie hat die Eigenschaft, während der Untätigkeit zu verrosten, ihr mögt noch soviel dran ölen oder reiben. Zudem ist
menschliche Maschinerie, wie der Augenschein uns eben lehrt, imstande von eignen Stücken den Dampf anzulassen und zu platzen
oder einen Veitstanz in unsren großen Städten zu tollen. Es mag,
wie Herr Potter sagt, längere Zeit zur Reproduktion der Arbeiter
erheischt sein, aber mit Maschinisten und Geld zur Hand werden
wir stets betriebsam, harte, industrielle Männer finden, um daraus mehr Fabrilaneister zu fabrizieren, als wir je verbrauchen
können... Herr Potter plaudert von einer Wiederbelebung der Industrie in 1, 2, 3 Jahren und verlangt von uns, die Emigration der
Arbeitskraft nicht zu ermuntern oder nicht zu erlauben! Er sagt,
es sei natürlich, daß die Arbeiter zu emigrieren wünschen, aber
er meint, daß die Nation diese halbe Million Arbeiter mit den
700 000, die an ihnen hängen, ihrem Verlangen zum Trotz in die
Baumwolldistrikte einsperren und, eine notwendige Konsequenz, ihr
Mißvergnügen durch Gewalt niederschlagen und sie selbst durch Almosen fristen muß, alles das auf die Chance hin, daß die Baumwollmeister ihrer an einem beliebigen Tag wieder bedürfen mögen... Die Zeit ist gekommen, wo die große öffentliche Meinung
dieser Eilande etwas tun muß, um 'diese Arbeitskraft' vor denen
zu retten, die sie behandeln wollen, wie sie Kohle, Eisen und
Baumwolle behandeln (to save this 'working power' from those who
would deal with it as they deal with iron, wd and cotton)." 15)
Der "Times"-Artikel war nur ein jeu d'esprit 1*). Die "große öffentliche Meinung" war in der Tat der Meinung des Herrn Potter,
daß die Fabrikarbeiter Mobiliarzubehör der Fabriken. Ihre Emigration wurde verhindert. 16) Man sperrte sie in das "moralische
Workhouse" der Baumwolldistrikte,
#603# 21. Kapitel - Einfache Reproduktion
und sie bilden nach wie vor die Stärke (the strength) der Baumwollmeister von Lancashire".
Der kapitalistische Produktionsprozeß reproduziert also durch
seinen eignen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen. Er reproduziert und verewigt damit die Exploitationsbedingungen des Arbeiters. Er zwingt beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt
beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern.
17) Es ist nicht rnehr der Zufall, welcher Kapitalist und Arbeiter als Käufer und Verkäufer einander auf dem Warenmarkt gegenüberstellt. Es ist die Zwickmühle des Prozesses selbst, die den
einen stets als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf den Warenmarkt
zurückschleudert und sein eignes Produkt stets in das Kaufmittel
des andren verwandelt. In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft. Seine ökonomische
Hörigkeit 18) ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt
durch die periodische Erneurung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherrn und die Oszillation im Marktpreise der Arbeit. 19)
17) "Der Arbeiter forderte Unterhaltsmittel, um zu leben, der
Chef forderte Arbeit, um zu verdienen." (Sismondi, l.c.p. 91.)
18) Eine bäuerlich plumpe Form dieser Hörigkeit existiert in der
Grafschaft Durham. Es ist dies eine der wenigen Grafschaften,
worin die Verhältnisse dem Pächter nicht unbestrittnen Eigentumstitel auf die Ackerbautaglöhner sichern. Die Bergwerkindustrie erlaubt letzteren eine Wahl. Der Pächter, im Gegensatz zur
Regel, übernimmt hier daher nur Pacht von Undereien, worauf sich
cottages für die Arbeiter befinden. Der Mietpreis der cottage
bildet Teil des Arbeitslohns. Diese cottages heißen "hind's houses" 1*). Sie werden den Arbeitern unter gewissen Feudalverpflichtungen vermietet, unter einem Vertrag, der "bondage"
(Hörigkeit) heißt und den Arbeiter z.B. bindet, für die Zeit,
während deren er anderswo beschäftigt ist, seine Tochter usw. zu
stellen. Der Arbeiter selbst heißt bondsman, Höriger. Dies Verhältnis zeigt auch die individuelle Konsumtion des Arbeiters als
Konsumtion für das Kapital oder produktive Konsumtion - von einer
ganz neuen Seite: "Es ist merkwürdig zu beobachten, wie selbst
der Kot dieses bondsman zu den Sporteln an seinen kalkulierenden
Gebieter zählt... Der Pächter erlaubt in der ganzen Nachbarschaft
keinen Abtritt außer seinem eignen und duldet in dieser Beziehung
keinen Abschlag von seinen Suzerainrechten." ("Public Health.
VII. Rep. 1864", p. 188.)
19) Man erinnert sich, daß bei der Arbeit der Kinder usw. selbst
die Formalität des Selbstverkaufs verschwindet.
#604# VII. Abschnitt - Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet
oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware,
nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst auf der einen Seite den Kapitalisten auf der
andren den Lohnarbeiter. 20)